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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten96
Eine Trennung von politischen und religiösen Aspekten des Geheimprotestantis-
mus und seiner habitusformenden Rolle ist jedoch nicht sinnvoll und möglich. So
war in religiöser Hinsicht etwa die Konzentration auf häusliche liturgische Feiern
und Andachten ein Schub zur »Verinnerlichung«, zugleich war die eschatologische
Grundausrichtung des geheimprotestantischen Milieus sicherlich ein Moment, das
die Standhaftigkeit vieler begünstigte.185 Der Historiker Rudolf Leeb würdigt das
Phänomen als einen bedeutenden Bestandteil der Kärntner Konfessions- und Men-
talitätsgeschichte : »Der Geheimprotestantismus war eine beeindruckende Laienbe-
wegung. Der österreichische und der Kärntner Protestantismus besitzen eine vom
16. bis ins 19. Jahrhundert reichende wirklich große und Respekt gebietende auto-
chthone Tradition des Laienchristentums. […] Das Selbstbewußtsein und die Selbst-
ständigkeit dieser Leute bekamen auch die ersten Pfarrer zu spüren, die nach 1781
erstmals seit rund 180 Jahren als evangelische Seelsorger offiziell ins Land durften.
Sie, die aus ihren Landeskirchen […] Gehorsam und Gefügigkeit der Gemeinde er-
warteten und gewohnt waren, hatten es am Anfang nicht immer leicht. Als man ›von
oben‹ über die Köpfe der Gemeindemitglieder hinweg ein neues Gesangbuch ver-
ordnete, waren die ehemaligen Geheimprotestanten sowohl mit dem Inhalt als auch
mit der Art und Weise der Einführung des Gesangbuches nicht einverstanden.«186
Widerstand gegen die Obrigkeit wurde also zu einem festen Bestandteil des Selbst-
bewusstseins und der Identität, unabhängig davon, wer diese Obrigkeit repräsen tierte.
»Dies ist auch weiter nicht verwunderlich, denn in der Tat agierten seit den Tagen
der Gegenreformation aus der Perspektive der Untertanen die katholische Kirche
und die weltliche Obrigkeit als Einheit.«187 Zur sozialen Hauptträgerschicht dieses
»Protesthabitus« wurde, nachdem in den Städten und Märkten die Rekatholisierung
erfolgreich gewesen und der Adel 1628 ausgewiesen worden war, der Bauern stand.188
Er konnte sich einerseits in entlegenen Streusiedlungen und abwegi gen Bergbauern-
höfen Oberkärntens einer permanenten Kontrolle entziehen,189 andererseits fanden
sich geheimprotestantische Bewegungen besonders dort häufig, wo auch die evange-
lischen Gemeinden im 16. Jahrhundert stark gewesen sind bzw. einflussreiche evan-
gelische Pfarrer gewirkt haben, nämlich in den Oberkärntner Tälern, allen voran
im Drautal und im Gegendtal.190 Dazu kommt auch eine bereits für diese Zeit in
185 Tropper, C.: Der Geheimprotestantismus (2011), 308 f.
186 Leeb, R.: Geheimprotestantismus (2000), 263 f.
187 Ebd., 250.
188 Ebd., 249.
189 Ebd., 249 f, hier 250. Topographische Gegebenheiten in Zusammenhang mit der Siedlungsweise im
Alpenraum werden beispielsweise bei Buchinger, E.: Die »Landler« (1980), 27, Reingrabner, G.: Pro-
testanten (1981), 161 und Tropper, P. G.: Staatliche Kirchenpolitik (1989), 59 als wesentlicher Grund
für den Fortbestand des Geheimprotestantismus angeführt.
190 Die Begründung des Phänomens des Geheimprotestantismus mit topographischen Gegebenheiten
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353