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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten98
Die Situation eskalierte in den 1730er Jahren. Nach der Deportation von 20.000
Personen in Salzburg im Jahre 1731 kam es zu Unruhen in Oberkärnten. 70 Solda-
ten wurden nach Kärnten beordert, um die angespannte Lage zu entschärfen.196 Die
Bauern beschwerten sich nun zunehmend über ihre Pfarrer, nicht selten wendeten
sie sich an das »Corpus Evangelicorum«, die seit dem Westfälischen Frieden zu-
ständige protestantische Gerichtsbehörde in Regensburg. Ihren Unmut äußerten sie
auch durch demonstrative Gesten während der Gottesdienste. Berichte über provo-
kante Körperhaltungen, Lesen und störende Lautäußerungen, die sogar bis hin zum
Absingen evangelischer Lieder reichten, können den Quellen entnommen werden.
Mittlerweile wurde aus dem geheimen Protestantismus immer häufiger offener Pro-
test. Tägliche Provokationen und Tumulte gingen mit regelmäßigen Inhaftierungen
einher. Öffentliche Bekenntnisse wurden abgelegt, die Ansuchen an das Corpus
Evangelicorum um Intervention (unter Unkenntnis der rechtlichen Sachlage) häufi-
ger. Ein Höhepunkt der Ereignisse war das Jahr 1734, als sich Bauern in Feffernitz,
Nikelsdorf und Pöllan (Oberkärnten) selbständig zu einem (Wort-)Gottesdienst zu-
sammenfanden. In der Herrschaft Millstatt entlud sich 1737 der Hass auf die Geist-
lichen in einem regelrechten Bauernaufstand, aber auch in anderen Kärntner Ge-
genden kam es zu Konflikten. »Spätestens mit diesem Zeitpunkt wird endgültig klar,
daß die katholische Konfessionalisierung in Kärnten nie vollständig gewesen ist.«197
Als Konsequenz begann man nun staatlicherseits mit der systematischen Depor-
tation von Protestanten und Protestantinnen nach Siebenbürgen.198 Diese radikale
Maßnahme der absolutistischen Epoche wird in der Forschung mit dem zeitgenös-
erhalten geblieben : Katholischen Geistlichen solle man stets »fein höflich und freundlich begeg-
nen«, dem katholischen Gottesdienst beiwohnen und sogar zur Beichte gehen – wenngleich man nur
jene Sünden zu sagen brauche, die man sagen will. Zur Abendmahlfeier jedoch solle man »auslau-
fen«, im Notfall aber beim Kommunizieren »einen lebendigen Glauben erwecken, daß er [der Wein,
Anm. d. Verf.] das Blut Christi werde«. Im Wirtshaus solle man sich vor religiösen Diskussionen in
Acht nehmen, damit man sich nicht verplappere, den Dienstboten und Kindern sei auch nicht zu
trauen. Katholische Devotionalien wie Heiligenbilder und Rosenkränze sollte man sogar im Haus
haben, um keinen Verdacht zu erwecken. Bei inquisitorischen Glaubensbefragungen solle man »ent-
weder zweideutig« antworten oder sich unwissend stellen. Wird das Glaubensbekenntnis verlangt,
solle man auf das große Nicäno-Konstantinopolitanum schwören ; bei Krankheit schließlich solle
die »letzte Ölung« so lange wie möglich hinausgeschoben werden. Diese »Vorschrift, nach welcher
sich die im Land ob der Ennß heimlich verborgenen Evangelischen zu verhalten haben«, findet sich
abgedruckt in Reingrabner, G.: Protestanten (1981), 159 f.
196 In der Pfarre St. Lorenzen kam es zu einer »Einschreibbewegung«, also zum (illegalen) Übertritt von
etwa 120 Personen zur Augsburger Konfession. In der Herrschaft Paternion nahmen einige Protes-
tanten katholische Kirchen in Besitz. Tropper, C.: Der Geheimprotestantismus (2011), 304 f.
197 Leeb, R.: Geheimprotestantismus (2000), 255–259, hier 258 ; Tropper, C.: Einschreibbewegung
(2008).
198 Vgl. dazu systematisch für die Deportationen 1734–1736 Steiner, S.: Reisen ohne Wiederkehr (2007).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353