Seite - 99 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Bild der Seite - 99 -
Text der Seite - 99 -
99Das
Konfessionelle Zeitalter
sisch gebrauchten, gewiss euphemistischen Begriff »Transmigration« bezeichnet. Sie
war letzte Konsequenz misslungener Sozialdisziplinierung.
Nachdem sich im September 1732 2.000 Personen öffentlich zum Protestantis-
mus bekannt hatten, begannen im Monat darauf die ersten Transmigrationen nach
Siebenbürgen, wo evangelische Kultusfreiheit herrschte. In den folgenden zwei Jah-
ren wurden etwa 180 Personen deportiert. Besonders entsetzlich erscheint in diesem
Kontext die gewaltsame Kindesabnahme. Minderjährige wurden im Land behalten,
um katholisch erzogen zu werden.199 Kinder von »Akatholischen« wurden an ka-
tholische Vormunde übergeben, bspw. an den Jesuitenorden. Bereits ausgewiesene
Eltern durften ihre Kinder nur unter harten Auflagen mit ausreisen bzw. nachholen
lassen.200 So wurden in dieser Phase 131 Kinder zwangsweise abgenommen, um sie
katholisch zu erziehen. »Seelische Qualen wegen der zurückgelassenen Kinder, die
oft auch verwahrlosten, sind hinreichend belegt. Die Maßnahmen forderten einen
erschreckend hohen Blutzoll : In den ersten 18 Monaten überlebten nur 39 % der
Männer, 47 % der Frauen, 33 % der Söhne und 84 % der Töchter.«201 Von weiteren
ca. 800 eigenständig Geflohenen wird ausgegangen.202
Unter Maria Theresia kam es in den 1750er Jahren noch einmal zu einer Deporta-
tion, deren Umstände jenen der 1730er Jahre ähnelten. Das Klima zwischen Pfarrer
und Bevölkerung hatte sich abermals verschlechtert, wieder waren antiklerikale Ak-
tionen ausschlaggebend. Wieder waren die Intervention des Corpus Evangelicorum
und sogar ein Bittschreiben an die Kaiserin persönlich vorausgegangen. Wiederum
provozierte eine »Einschreibbewegung«, in der relativ rasch eine große Zahl an Un-
tertanen zum öffentlichen Bekenntnis durch Unterschrift erreicht werden konnte,
die Transmigrationen.203 1754/55 wurden 334 Familien (851 Personen, minderjäh-
rige Kinder wurden wieder abgenommen) nach Siebenbürgen zwangsverfrachtet.
Wieder starb bereits in den ersten Jahren gut die Hälfte der Deportierten.204
»Die Transmigrationen müssen insgesamt als Misserfolg (aus der Sicht der staat-
lich-ökonomischen Überlegungen) und als tragisches Kapitel der Geschichte des
Landes und des Zusammenlebens der beiden Konfessionen bezeichnet werden, da
die Ansiedlung, der Neuaufbau einer Existenz, nur in wenigen Fällen gelang, sozialer
199 Eine so erhoffte Persönlichkeitsformung der »noch nicht verdorbenen« Heranwachsenden hatte in
einigen Fällen gegenteilige Wirkungen. Viele bei katholischen Eltern erzogene Transmigrantenkin-
der sind nach dem Toleranzpatent als protestantische Führungspersönlichkeiten aufgetreten. Steiner,
S.: Auf und davon (2007), 206.
200 Höfer, R. K.: Gegenreformatorische Maßnahmen (2011), 216.
201 Leeb, R.: Geheimprotestantismus (2000), 258 f., hier 259.
202 Ebd., 259.
203 Koller-Neumann, I.: Einschreibbewegung (1982).
204 Leeb, R.: Geheimprotestantismus (2000), 259 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353