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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten106
liothek zu überprüfen hatten.231 Mit einem Hofdekret von 1783 wurden »General-
seminarien« zur Priesterausbildung eingeführt, die von nun an für Weltklerus als
auch Ordensklerus verpflichtend waren und als Ausbildungsstätten für »kirchliche
Staatsbeamten« gesehen werden können.232
Darüber hinaus intendierten die josephinischen Reformen aber auch, ausgehend
von allgemeinen theologischen Entwicklungen, die Teilnahme am Gottesdienst von
einer Frömmigkeits- und Andachtsübung zu einem stärker am liturgischen Gesche-
hen orientierten Gemeindekult zu transformieren – wenn auch mit bescheidenem
Erfolg. Die intensivierte Förderung der Beichtpraxis führte zu einem Individuali-
sierungsschub in der Frömmigkeit, wenngleich für den Großteil der Untertanen die
Beichte freilich eine unangenehme, in harmloseren Fällen nur lästige, oft aber auch
angstbesetzte Pflicht blieb.233
Bei der Bevölkerung stießen solche Veränderungen jedoch nicht selten auf Wider-
stand. Im Zuge der josephinischen Pfarrregulierung kam es zu zahlreichen nachbar-
schaftlichen Eigeninitiativen, die gegen diverse »Rationalisierungstendenzen« (wie
bspw. das Entkleiden von Statuen) im Volksbrauchtum und in der Frömmigkeit auf-
begehrten.234 So wurden bspw. als Reaktion auf die Abschaffung des »Wetterläutens«
die Entrichtung der Abgaben an den Pfarrer verweigert oder bei der Übermalung
von Bildnissen, wie bspw. jene des an Kirchenaußenwänden in magischer Hoffnung
angerufenen hl. Christophorus, tätlicher Widerstand geleistet.235
Als wesentlicher Einschnitt im Kontext der josephinischen Reformen muss das
Toleranzpatent von 1781 gesehen werden. Hatte Maria Theresia noch 1778 strikte
religionsgesetzliche Maßnahmen erlassen, setzte Joseph unmittelbar nach ihrem Tod
1780 seine diesen konträr entgegenstehenden Toleranzideen bereits im ersten Regie-
rungsjahr um.236 Dahinter stand das ökonomistische Kalkül, dass religiöse Toleranz
die Zuwanderung fördern und damit die wirtschaftlich ohnehin ins Hintertreffen
geratene Monarchie stärken sollte.237 Die katholische Mission wurde endgültig ein-
231 Ebd., 76 f.
232 Ebd., 67–73. Für den Kärntner Klerus bedeutete dies ein Theologiestudium in Graz, wo das Pries-
terseminar im ehemaligen Jesuitenkollegium eingerichtet wurde. Hatte man damit einerseits die He-
bung des Bildungsstandes und damit der Qualität der Seelsorge im Sinn, führte dies andererseits
langfristig zu einem Priestermangel, da der niedere Klerus in Kärnten sich bislang vorrangig aus der
armen Landbevölkerung rekrutierte, die die Mühen und Kosten einer solchen Ausbildung nun nicht
mehr tragen konnte. Man versuchte darauf durch die Verkürzung der Studiendauer von fünf auf drei
Jahre zu reagieren, jedoch nur mit teilweisem Erfolg. Ebd., 71.
233 Tropper, P. G.: »Katholisch-Sein« (2000), 241 f.
234 Tropper, C.: Pfarren (2009), 331.
235 Frankl, K. H./Tropper, P. G./Tropper, C.: Gegenreformation (2004), 45.
236 Stauber, R.: Umbruch zur Toleranz (2011), 326–331.
237 Tropper, P. G.: »Katholisch-Sein« (2000), 248.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353