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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten126
damit doch in den Augen der Großdeutschen und auch des Bauernbundes als natio-
nale Verräter.344
In der Diözese Gurk versuchte man unter Bischof Hefter politische Fragestel-
lungen über sozialethische Gesichtspunkte abzuhandeln. Auf der Suche nach einem
Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus rang man in Kärnten besonders
um die Arbeiter- und Dienstbotenschaft, deren Distanz zur Kirche erheblich war.
Die parteipolitische Positionierung war für diese Suche jedoch äußerst hinderlich,
galt die Christlichsoziale Partei unter Seipel ja auch als Schirmherr liberaler Wirt-
schaftsideologie und damit der »Bourgeoisie«. Eine Frontstellung zum Sozialismus
bzw. zur Sozialdemokratie war politisch unvermeidlich geworden. Mit der ersten
Regierung Seipel 1922 verhärteten sich die Fronten in ganz Österreich. 1923 rief die
Sozialdemokratische Partei erstmals in der Ersten Republik offiziell zum Kirchen-
austritt auf. Mit dem Justizpalastbrand von 1927 erreichten die Austrittszahlen einen
ersten Höhepunkt. Es sollte allerdings noch drei innenpolitisch zerfahrene Jahre
dauern, bis die Sozialdemokratie 1930 wieder als stärkste Partei Regierungsverant-
wortung übernahm.345
Die gesellschaftliche Polarisierung um den Einfluss der Kirche(n) im Staat zeigte
sich vor allem an der Ehe- und Schulgesetzgebung. In Ersterem sorgte der nieder-
österreichische Landeshauptmann Albert Sever für schwere Verstimmungen, weil er
unter Berufung auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch als Landeshauptmann
von Ehehindernissen dispensierte und damit zahlreichen Geschiedenen die Wieder-
verheiratung ermöglichte. In der Schulfrage war es der Glöckel-Erlass, benannt nach
dem Staatssekretär für Unterricht, der die Zwangsteilnahme an religiösen Übungen
für Schüler und Schülerinnen aufhob und das Lehrpersonal von der verpflichten-
den Beaufsichtigung ebendieser entband. In Kärnten hatte dies zu einem spürbaren
Rückgang bei den Teilnahmen an religiösen Übungen geführt, wofür man auch di-
verse Konkurrenzvereinigungen, wie es die Kinderfreunde, Wandervögel oder Pfad-
finder waren, verantwortlich machte. Bischof Hefter forcierte demgegenüber den
Aufbau von katholischen Standesvereinigungen von Männern, Frauen und Kindern
und sah in der Steigerung der Häufigkeit des Kommunionsempfangs ein Gegenmit-
tel – ein aus heutiger Sicht wenig wirksames allerdings.346 Interessanterweise war es
auch Hefter, der unter den österreichischen Bischöfen in der Ersten Republik am
deutlichsten die Gefahr einer endgültigen und vollständigen Trennung von Staat
und Kirche kommen sah und im Hinblick darauf die Einführung eines Pfarrsteuer-
system vorbereitete.347 Die 1922 von Papst Pius XI. geforderte stärkere Integration
344 Rumpler, H.: Die nationale Frage (2005), 27.
345 Fräss-Ehrfeld-Kromer, C.: Adam Hefter (1974), 147–149.
346 Ebd., 150 f.
347 Ebd., 157 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353