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141Hinführung
und ein katholisches Begräbnis in Anspruch […] nehmen«69. Abgesehen vom urba-
nen Raum Wiens war aber die Reichweite kirchlicher Kommunikationsbemühungen
nach wie vor vergleichsweise hoch. »Durch die spezifische Kommunikationsstruktur
im Dorf war die Katholische Kirche tatsächlich allen anderen gesellschaftlichen Grup-
pierungen überlegen. Und die Pfarrer waren sich dessen bewußt. Denn welche andere
Gruppe konnte wöchentlich einmal 70–80 % der Dorfbevölkerung versammeln und
sie in einer halbstündigen Predigt beeinflussen ? Mit den ausgegeben Beichtzetteln war
auch eine ziemlich lückenlose Kontrolle möglich ; wer nicht zur Beichte kam, konnte
leicht eruiert und bearbeitet werden ; wobei die in fast allen Gemeinden recht aktive
Katholische Frauenbewegung die soziale Kontrolle verdichten konnte.«70
Die Pfarrer wetterten gegen den modernisierenden Zeitgeist, konkret gegen die
Teilnahme am Sportverein (der die Jugend am Sonntag in Turnieren und Meister-
schaften vom Sonntagsgottesdienst abhielt), gegen das Bergwandern und Schifahren
sowie gegen den Fremdenverkehr, der trotz seiner positiven ökonomischen Auswir-
kungen fremde, oft frivole Sitten unter die Jugend bringe.71
Auch das öffentliche Leben wurde von den Rekatholisierungsversuchen erfasst.
Mariazell wurde stärker als je zuvor zum Inbegriff eines staatstragenden Marienkults,
man zelebrierte Feldmessen und weihte Amtsräume. Bundeskanzler Dollfuß hatte
bereits zu Lebzeiten den üblichen Führerkult gebilligt, darunter auch so groteske
Elemente wie ein »Dollfuß-Unser«-Gebet. Dieser Kult spitzte sich nach seiner Er-
mordung weiter zu : »In manchen Kirchen entstanden Dollfußaltäre, und fromme
Bauernfamilien hängten sein Bild in den Herrgottswinkel«72. Der Neue Platz in Kla-
genfurt etwa wurde in »Dollfuß-Platz« umbenannt und an der Westseite des Land-
hauses ein »Dollfuß-Kreuz« errichtet.73
All diese Maßnahmen führten aber eher zu einem gegenteiligen Effekt und ver-
stärkten eine gewisse antiklerikale Haltung in der Bevölkerung. »Die Schere zwi-
schen säkularisierter Alltagserfahrung und zwanghafter Pastorisierung wurde immer
weiter. Je stärker die sozio-politische Stellung der Kirche war, desto schwächer war ihr
moralisch-intellektuelles Ansehen. Erst in der NS-Zeit, als die politische Position der
Kirche radikal geschwächt wurde, schnellte ihr moralisches Prestige in die Höhe.«74
Für die Zeit des Ständestaates war es gerade die als bedrückend wahrgenommene,
zumindest formal wiedererstarkte Allianz zwischen Staat und Kirche, die besonders
in den kryptoprotestantischen Gegenden Österreichs, allen voran in Kärnten, der
69 Ebd., 56.
70 Ebd., 64.
71 Ebd., 64 f.
72 Ebd., 63.
73 Wadl, W./Ogris, A. (Hg.) : Das Jahr 1938 (1988), 127.
74 Hanisch, E.: Der Politische Katholizismus (1988), 65.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353