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143Hinführung
nerseits und den aristokratischen Heimwehreliten andererseits. Innerhalb der Vaterlän-
dischen Front (VF), also jener Einheitspartei, in der Dollfuß die Christlichsoziale Partei
und die Wehrverbände mit den Heimwehren und Schuschniggs Ostmärkischen Sturm-
scharen versammelte, zeigte sich bald eine gewisse Heterogenität. Die Modernisierer in
der Seipel-Tradition standen einem »reaktionären Bürgerblock« gegenüber.82 Anstelle
einer Massenbewegung im Stile der NSDAP war die Vaterländische Front eine »büro-
kratische Organisationshülse der Regierung ohne Eigendynamik und Eigengewicht.«83
Nach der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Zuge des Juli-
putsches der Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 wurde Kurt Schuschnigg am 30.
Juli Kanzler. Ernst Rüdiger Starhemberg, der Führer der Heimwehren, wurde sein
Stellvertreter und Bundesführer der Vaterländischen Front. Starhemberg geriet da-
nach immer mehr zum Konkurrenten Schuschniggs. Dieser allerdings konnte Star-
hemberg im internen Machtkampf ausschalten und die Heimwehrverbände am 10.
Oktober 1936 auflösen. Aussöhnungstendenzen mit der »linken Reichshälfte« ka-
men mit dem Sozialminister Dobretsberger in Gang, wurden aber letztendlich von
Schuschnigg wieder unterbunden.84
Im selben Jahr sollte das Abkommen vom 11. Juli 1936 zwischen dem österrei-
chischen Ständestaat und Nazi-Deutschland folgenreich sein. Es war einerseits auf
die Beilegung der bilateralen Konflikte und die Beendigung weiterer Einmischung
Deutschlands ausgerichtet, hat aber andererseits den nationalsozialistischen Ein-
marsch in Österreich wesentlich mit vorbereitet. Hitler sicherte Österreich die An-
erkennung als eigenständigen Staat zu und hob die Tausend-Mark-Sperre auf, die
seit 1933 deutschen Staatsangehörigen bei Überquerung der Landesgrenze eintau-
send Mark kostete. Zugleich bedeutete aber die Aufhebung dieser Sperre auch die
Öffnung der österreichischen Wirtschaft für den reichsdeutschen Einfluss. Schusch-
nigg sicherte im Gegenzug – neben weiteren Details – eine Amnestie für die inhaf-
tierten Juliputschisten zu (sofern die Straftat keine Blutschuld inkludierte) und, das
wird von Historikern und Historikerinnen als weitaus schwerwiegender erachtet, die
Integration der »nationalen Opposition« in die Regierung. Konkret bedeutete dies,
dass faktisch nationalsozialistisch gesinnte Akteure in die sogenannten Nationalpo-
litischen Referate der Vaterländischen Front berufen wurden – damit standen den
Illegalen die Wege in die österreichische Politik offen.85 So war das Juliabkommen
im Grunde ein »trojanisches Pferd« für die nationalsozialistische Machtergreifung.86
82 Binder, D. A.: Der »Christliche Ständestaat« (1997), 204 f.
83 Ebd., 210.
84 Ebd., 216 f.
85 Für das Land Kärnten war das der umstrittene Schriftsteller und Politiker Josef Friedrich Perkonig,
auf den in Teil III Kapitel 2.6 noch ausführlich eingegangen werden wird.
86 Binder, D. A.: Der »Christliche Ständestaat« (1997), 220 f.; vgl. auch Rumpler, H.: Dammbruch
(1989).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353