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185Die
Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938
Am 8. April fuhren 2 Auto[s] voll Sturmschärler durch Greifenburg und wurden hitler-
mäßig begrüßt. Darauf stiegen sie ab und machten gründlich Ordnung. Das erbitterte die
Nazi so, daß sie nun der Reihe nach abfallen. Man redet von 50 Personen. Tatsächlich
kamen die Akten von 8 gestern anher. Daraus ersieht man, daß sich die Bezirkshauptmann-
schaft um die Verordnung vom 16.8.1933 nicht kümmert. In Oberdrauburg sollen auch 40
abgefallen sein. Es wird nun um Antwort gebeten, ob das Pfarramt diese Abfälle nicht zur
Kenntnis nehmen und Rekurs dagegen ergreifen soll, oder ob es gar das Bundeskanzleramt
damit befassen soll. Weitere Abfälle laufen erst und werden die Akten bald eintreffen.235
Die angesprochene Verordnung vom 16. August 1933 legte fest, dass Kirchenaustritts-
erklärungen durch die Behörde zu überprüfen waren, und zwar habe man sich »ins-
besondere auch von dem psychischen Zustand des den Austritt erklärenden« amtlich
zu überzeugen sowie nach einer »nicht unter drei Monaten anzuberaumen[den]«236
Frist die Austrittswilligen erneut vorzuladen, wobei diese ihre Entscheidung wider-
rufen können.237 Allerdings fehlte es nach Meinung der Kärntner Kleriker an der
kooperativen Umsetzungsbereitschaft der Verordnung bzw. des mit ihr verbundenen
Erlasses seitens der Behörden. Mehrere Kritikpunkte gehen diesbezüglich aus den
Apostasieberichten hervor. Ein erster war die Meldepraxis. Würde man rechtzeitig
vom Austrittsgesuch der Apostaten und Apostatinnen erfahren, könnten Pfarrer oder
Verwandte noch zu einem Umdenken bewegen, so die gängige Meinung unter den
Kärntner Klerikern.
Aber es wäre sehr zweckmäßig, wenn anordnungsmäßig von der Bezirkshauptmannschaft
das Wohnpfarramt innerhalb [H. i. O.] der 3 Monatfrist über jeden Religionswechsel ver-
ständigt werden würde, oder wenigstens mündliche Auskunft über alles erteilt würde, da-
mit man den Abfallskandidaten noch mit Erfolg belehren kann, was dem Priester und gut-
gebliebenen Verwandten zumeist gelingen wird.
Dies hatte sicher Dr. Dollfuß hochseligen Andenkens durch die Einführung der 3mona-
tigen Wartefrist beabsichtigt. Eine solche Verordnungsergänzung würde der Beruhigung
dienen und der hl. kathol. Kirche nützlich sein.238
Ein zweiter Kritikpunkt betraf die »Überprüfung« des psychischen Zustands der
Austrittswilligen. Franz Neuwirther, Dechant des Dekanats Friesach und beson-
ders scharfzüngiger Kritiker der örtlichen Behörden, wetterte gegen die Praxis, ein
»Tippfräulein« zur vermeintlichen »Bekehrung« einzusetzen :
235 Dillinger, J.: Abfallbewegung [Pfarre Greifenburg]. Dringend. (16.04.1934).
236 Der Erlaß zur Verordnung ist abgedruckt bei Schwarz, G. P.: Ständestaat (1987), 106.
237 Schwarz, K. W.: Johannes Heinzelmann (2014), 693 f.
238 Hauser, K.: Apostasien Pfarre Moosburg (15.07.1935).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353