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203Die
Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938
In einem Fall muss man regelrecht kriminelle Machenschaften vermuten :
Ja, ein junger, glaubensloser, in Amerika geb., erst nach ein-ein halb Jahr[en] getaufter
Mensch ist konfessionslos geworden. Grund : N.S.Hetze. Feststeht, dass Geld geboten
wird, wie noch unbekannt, Gefertigter Muss [sic !] schweigen. Vermutung ! ! geheime [sic !]
Abfalls[-]Vorträge.324
Die wirtschaftliche Notlage vieler Kärntner und Kärntnerinnen äußerte sich häu-
fig im Mangel am Notwendigsten. Besonders die harten Winter erforderten
Hilfs programme, an denen sich auch die evangelische Kirche beteiligte. »Win-
ter hilfe versprechen«325 erschienen nun ebenso wie diverse andere materielle Unter-
stüt zungsleistungen als ein attraktiver Grund zum Konfessionswechsel. So be-
richtete dem Pfarrer von Stein im Jauntal »ein gewisser J. S. […], dass er keine
entsprechende[n] Kleider mehr habe und dass er dann [nach dem Übertritt,
Anm. d. Verf.] von den Protestanten einen neuen Anzug bekommen werde.«326
Es ist klar, dass der Übertritt zur evangelischen Kirche in jenen politisch ange-
spannten Zeiten freilich selten aus rein religiösen Gründen erfolgte. Aber auch in
der evangelischen Kirche galten gewisse Regelungen, wie jene der Kirchensteuer,
mit denen sich nun viele Übergetretene konfrontiert sahen : »die Meisten sind zur ev.
Kirche übergetreten, wo es ihnen aber, wie sie selbst erklärten, nicht gefällt, zumal
ihnen die Bezahlung der Kirchensteuer schwer fällt.«327
In den Apostasieberichten der katholischen Geistlichen werden daher auch Per-
sonen geschildert, die sich mit der evangelischen Kirche auch nicht so recht identi-
fizieren können.
Der Apostat ist Buchhalter und nationalsozialistischer Führer ; er ist zur protestantischen
Kirche abgefallen, obwohl er auch dort ›nicht mit allem einverstanden ist‹, wie er erklärte.
Abfallsgrund ist allein politische Hetze, wie er selbst zugibt.328
Folgerichtig wird deutlich, dass die von ihrer kirchlichen Verankerung losgelösten
religiösen Sehnsüchte häufig in die Ideologie des Nationalsozialismus projiziert wur-
den. Der Führer-Kult, das Versprechen vom wirtschaftlichen Aufstieg, die Anth-
ropologie der Rassenlehre sowie der Aufgriff germanischer Mythologie boten eine
ideale Grundlage, die Nazi-Ideologie als Ersatzreligion auszuleben.
324 Reichegger, J.: Abfall Irschen (15.01.1935).
325 Neuwirther, F.: Apostasie-Ausweis über das Jahr 1935, Stadtpfarramt Friesach (o. D. [Frühjahr 1936]).
326 Sturm, A.: Abfallsbewegung Pfarramt Stein (24.07.1933).
327 Haag, K.: Monatlicher Apostasie-Ausweis Pfarre St. Martin in Villach (19.08.1933).
328 Otto, E.: Apostasie-Ausweis Pfarre St. Ruprecht (07.05.1934).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353