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205Die
Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938
»große Glaubenslauheit«336, als »Gleichgültigkeit in Sachen der hl. Religion«337 oder
»vollständige Glaubenslosigkeit«338 bezeichnet haben, dem entspricht, was Max We-
ber als »religiös unmusikalisch« bezeichnet hat. Kirchenferne ist keineswegs gleichzu-
setzen mit religiöser Indifferenz. Das Urteil eines Klerikers, dass »[a]lle Apostaten […]
nach Ansicht des Seelsorgers vor allem deshalb abgefallen [sind], weil sie sehr selten
sich um Religion und Kirche gekümmert haben«339, deutet auf einen Entfremdungs-
prozess von Kirche und Bevölkerung hin. Und so muss auch die Feststellung, dass
die Propagandeure der nationalsozialistischen Bewegung in Kärnten »Leute sind, die
wohl selbst weit entfernt von irgendwelchem Christentum überhaupt sind«340, als Teil
dieses Prozesses gesehen und in einen größeren historischen Kontext gebracht werden.
Der Zusammenhang vom Aufstieg des Nationalsozialismus in Kärnten und dessen
Ablehnung der katholischen Kirche ist kein Phänomen, dessen Ursachen allein in
den politischen Auseinandersetzungen der 1920er und 1930er Jahre zu suchen sind –
hier findet man eher die Auslöser als die Ursachen –, sondern wurzelt auch in den his-
torischen Erfahrungen vieler Kärntner und Kärntnerinnen mit ihrer Kirche. Dem-
entsprechend waren viele Austrittswillige bereits kirchenfern sozialisiert worden und
es wäre falsch, an einen plötzlichen Bruch jener mit der Kirche zu denken. Viele der
angesprochenen Akteure und Akteurinnen sind schon »immer Gegner der kath. Kir-
che gewesen«341 und »seit Jahren [H. i. O.] nicht praktizierende Katholiken.«342
So bestätigt auch der folgende Bericht, dass kirchenskeptische Grundhaltungen
bereits vom Elternhaus vermittelt wurden und es sich also um kein dezidiert genera-
tionenspezifisches Phänomen handelte :
Der Genannte ist unbelehrbarer Nationalsozialist und ist einstweilen einer erfolgreichen
Einflußnahme auf denselben nicht zu hoffen, weil auch dessen Eltern keinen religiösen
Kult haben und vollends glaubenslos kein Gotteshaus jahraus, jahrein sehen.343
Manchmal wurde ein offizieller Austritt gar nicht angestrebt, womöglich, weil man
ohnehin keine Bedeutung in einer Kirchenmitgliedschaft sah :
Wohl scheinen manche, die überhaupt eine Kirche von Innen nicht sehen, beim protestant.
Gottesdienste in einem hiesigen Gasthause sich einzufinden, aber eine formelle Absage an
336 Krainer, K.: Abfallsbewegung Pfarre Stall (10.08.1933).
337 Rudolph, P.: Abfallsbewegung Pfarre Altenmarkt (05.03.1935).
338 Prasser, J.: Abfallsbewegung Pfarre Mauthen (21.11.1934).
339 Koperek, F.: Apostasienausweis Pfarre St. Paul ob Ferndorf (14.02.1936).
340 Neuwirther, F.: Abfallsanzeige über den Monat August 1934, Dekanat Friesach (10.09.1934).
341 Fiebiger, F.: Abfallbewegung Stadtpfarramt St. Veit (09.08.1933).
342 Broll, G.: Abfälle [Stadtpfarramt Gmünd] (05.08.1933).
343 Gußger, B.: Abfallsbewegung August 1935 Pfarre St. Nikolaus zu Straßburg (01.09.1935).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353