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217Zwischenresümee
im Jänner 1934 waren die Folge. Vergleichsweise gering hingegen wirkten sich die
Februarunruhen 1934 aus, die im Rest Österreichs bekanntlich zu bürgerkriegsähn-
lichen Auseinandersetzungen führten. Umso heftiger waren die Kämpfe in Kärnten
rund um den Juliputsch der Nationalsozialisten 1934. Nach dessen Niederschlagung
gingen oberflächlich auch die Kirchenaustritte zurück, während im illegalen Mi-
lieu das Ziel des Anschlusses und damit zugleich ein Massenaustritt aus der Kirche
weiterverfolgt wurden. Insbesondere die Amnestie von 80 politischen Häftlingen
infolge des Juliabkommens zwischen Schuschnigg und Hitler 1936 stärkte der nati-
onalsozialistischen wie auch antiklerikalen Propagandaarbeit den Rücken, sodass ein
Massenaustritt in Folge des »Anschlusses« an Nazi-Deutschland im März 1938 nicht
mehr aufzuhalten war.
Die im Vergleich zu anderen Diözesen auffallend hohen Kirchenaustrittszah-
len in Kärnten erklären sich, so die These, aus den historischen Erfahrungen der
Kärntner und Kärntnerinnen mit ihrer Kirche, die immer wieder als Verbündete
staatlicher Unterdrückung erlebt wurde. So musste das in Kärnten unpopuläre Doll-
fuß-Schuschnigg-Regime mit seinem Rückgriff auf die katholische Kirche als Sys-
temstütze wie eine erneute Gegenreformation wahrgenommen worden sein. Eine
»österreichisch-vaterländische Gesinnung«, wie sie die ständestaatlichen Eliten in
der Bevölkerung zu etablieren versuchten, konnte so in Kärnten nicht Fuß fassen.
Zahlreiche Berichte an das Ordinariat belegen den Zusammenhang von Kirchenaus-
tritt und der Ablehnung des politischen Systems. Mitunter wurden auch Geschäfts-
treibende mit bekannter christlich-sozialer Gesinnung vonseiten der regierungskriti-
schen Bevölkerung boykottiert, während umgekehrt Kleriker ihren Einfluss geltend
zu machen versuchten, um gegen Widerständige behördlich vorzugehen oder aber
die Behörden, die häufig als nicht entsprechend loyal beschrieben wurden, selbst von
höherer Stelle maßregeln zu lassen.
Diese Schieflage zeigte sich grundlegend an der vielfach kränkelnden Beziehung
zwischen Pfarrer und Pfarrbevölkerung. Häufig entluden sich die Spannungen in tief
emotional vorgetragenem Antiklerikalismus, in Hassgebärden und Schmähworten
gegen die Person des Priesters, der seinerseits selbst nicht mit seiner abschätzigen
Meinung über die Pfarrbevölkerung hinter den Berg hielt. Persönliche Kränkungen
des Seelsorgers konnten aus vielen Berichten herausgelesen werden, viele resultier-
ten auch aus dem Gefühl des Loyalitätsverlustes der engsten pfarrlichen Mitarbei-
ter wie des Messners oder des Organisten oder aus einem gespannten Verhältnis zu
einem anderen Pfarrer. So wusste man sich häufig auch gar nicht anders zu helfen,
als mit der üblichen Droh- und Beschämungsrhetorik von der Kanzel herab dem
Kirchenvolk ins Gewissen zu predigen, weil man die Ausgetretenen ohnehin nicht
mehr erreichte.
Selbstverständlich war das antiklerikale »Programm« der kirchenskeptischen Be-
völkerung nicht nur ein Angriff auf die Person des Priesters, sondern auch auf die
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353