Seite - 221 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Bild der Seite - 221 -
Text der Seite - 221 -
221Zwischenresümee
ausgewerteten Archivmaterial zur Kirchenaustrittsbewegung dieser Jahre einzelne
Aspekte jener Wahrnehmung herauszufiltern. Seine Interpretation erlaubt nicht nur
Rückschlüsse auf faktengeschichtlich relevante Ereignisse und Zusammenhänge,
sondern auch auf mentalitätsgeschichtlich gewordene, eben habituell bedingte Um-
gangsformen, die die Beziehung von Kirchenvertretern und der Kärntner Bevöl-
kerung prägen. Facetten wie der beschriebene Umgang mit Autorität samt ihren
Teilaspekten der Denunziation und Beschämung, die Frage des Verhaltens zu Obrig-
keiten wie Kirche und Staat sowie die Regulierung des Affekt- und Emotionshaus-
haltes in Konfliktsituationen stellen konkrete Aspekte des Habitus dar.
Nun gilt es, dieses Zusammenspiel von Habitus und Wahrnehmung der Kirche
in Kärnten noch weiter zu vertiefen. Methodisch eignet sich dafür der Rückgriff auf
Elemente des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft bzw. Figuration. Habitus
und kulturelles Gedächtnis bedingen sich gegenseitig. Habituelle Prägungen, bspw.
wie Menschen mit ihren Gefühlen umgehen, wie sie Herrschafts- und Unterdrü-
ckungserfahrungen verarbeiten, Angst und Bedrohung bewältigen, Normen befol-
gen, Tabus brechen, Stolz und Wir-Bewusstsein artikulieren oder Ehre und Scham
regulieren, finden Niederschlag im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Um-
gekehrt vermag auch das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft bzw. Figuration
entscheidend das »Wir« vom »Anderen« abzugrenzen, die Ausprägung von kollek-
tiver Identität zu unterstützen, Normen und Tabus zu vermitteln, ja sogar Ängste zu
schüren oder zu beschwichtigen.
Die meisten Menschen, von denen in den Klerikerberichten des analysierten Ar-
chivmaterials die Rede war, hatten über ihre Sozialisation in den letzten Jahrzehnten
des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Anteil am annähernd sel-
ben kulturellen Gedächtnisvorrat – Apostaten ebenso wie Kleriker, Nazis ebenso wie
Kommunisten, »Konkubinen« ebenso wie Dienstbotinnen. Freilich gilt es hier, die
milieuspezifischen Sozialisationsbedingungen sorgfältig zu differenzieren. Bildung,
Status, materielles Kapital und der jeweils gültige Normen- und Wertekanon sind
bspw. im kirchlichen Milieu anders verteilt als im bäuerlichen, insofern variieren
auch der Zugang zu sowie der Interpretationsspielraum von solchen Gedächtnisin-
halten.
Aus diesem Grund sollen im folgenden dritten Hauptteil, der sich mit der Wahr-
nehmung der Kirche in sieben Erinnerungstraditionen Kärntens beschäftigt, mög-
lichst vielfältige Quellen behandelt werden. So werden neben historiographischen
Werken unterschiedliche literarische Gattungen wie historische Romane, Sagen,
eine Novelle, eine Tragödie, eine Autobiographie sowie Darstellungen aus der bil-
denden Kunst ausgewertet werden. Wird für länger zurückreichende Ereignisse ver-
sucht, die gedächtnisgeschichtliche Genese der einzelnen Erinnerungstraditionen zu
skizzieren, liegt der Hauptfokus in den meisten ausgewählten Beispielen auf ihrem
Erscheinungs- oder Entstehungskontext in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun-
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353