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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Völlig anders aber liest sich das Urteil nur wenige Seiten weiter über die Zwangs-
bekehrungen der Sachsen durch Karl den Großen, der die »tapfersten und besten
Sachsenführer treulos niedermetzeln ließ, […] gewaltsam zum Christentum bekehrt
und alle deutschen Sitten und Gebräuche mit Stumpf und Stiel ausgerottet [hat].«12
Das Christentum steht nun nicht mehr für das höhere Kulturgut, sondern für »frem-
des Recht« und »fremde Gebräuche«. »Die Freiheit dieser ›freinackigen Männer‹
war für immer dahin, ihre Könige mußten sich vor Päpsten demütigen, ihr Blut ver-
spritzte in gegenseitigen zwecklosen Kriegen.«13
Diese Darstellung spiegelt das antikirchliche Gedankengut deutschnationaler
Geschichtsauffassung wider. Die Rolle von Christentum und Kirche wird also je
nach Aussageintention instrumentalisiert. Unabhängig davon ist diese tendenziöse
Darstellung ein Beispiel für den Mythos von der »Kärntner Urangst« vor dem Sla-
wentum, der in abgeschwächter Form bis in die Gegenwart im politischen Diskurs
immer wieder aufgegriffen wird.
Ein weiteres Beispiel für die Wandlung und Anpassung der Erinnerung an die
Epoche der Missionierung und Christianisierung ist die Erzählung vom »Gastmahl
des Ingo«. Ihre Wirkungsgeschichte illustriert einen wichtigen Aspekt des Kärntner
Habitus, nämlich jenen der Idealisierung des einfachen und bodenständigen Bau-
ern. Sie steht überdies in enger Verbindung mit den Herzogseinsetzungszeremonien
am Zollfeld. Unter dem Titel »Herzog Ingos Gastmahl« fand die Erzählung auch
Aufnahme in die zur Zwischenkriegszeit überaus populäre, 1941 bereits in fünfter
Auflage erschienene14 Sammlung von Sagen aus Kärnten von Georg Graber.15 His-
torisch betrachtet war Ingo vermutlich einer jener Missionspriester, die etwa zwei
Jahrzehnte nach dem Tod des Modestus 763 die ins Stocken geratenen Missionie-
rungsbemühungen in Karantanien wieder aufnehmen sollten.16 Die Lehrerzählung
vom »Gastmahl des Ingo« wird bereits in der Conversio Bagoariorum et Carantano-
rum17 erzählt :
Er [Ingo, Anm. d. Verf.] lud rechtgläubige Knechte zu sich an den Tisch, während er ihre
ungläubigen Herren draußen vor der Tür, als wären sie Hunde, Platz nehmen ließ, wo er
12 Ebd., 47, H. i. O.
13 Ebd., 47 f.
14 Baur, U./Gradwohl-Schlacher, K.: Literatur (2011), 129.
15 Graber, G. (Hg.) : Sagen aus Kärnten (1941), 309 f.
16 Tropper, P. G.: Missionsgebiet (1996), 19–21.
17 Bei der Conversio handelt es sich um eine »Propagandaschrift«, die vermutlich auf den Salzburger
Erzbischof Adalwin (859–873) zurückgeht und als Untermauerung des Missionierungsanspruches
Salzburgs in Karantanien und Pannonien, der von der beginnenden Slawenmission durch Kyrillos und
Methodios untergraben worden war, diente. Zur Entstehungsgeschichte der Conversio siehe Wolfram,
H.: Conversio Bagoariorum (1979), 9–18 ; Nótári, T.: Urkundenpraxis (2015), 328.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353