Seite - 230 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Bild der Seite - 230 -
Text der Seite - 230 -
Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis230
kenswerte Stellung des Bauern, der in der Zeremonie den zukünftigen Fürsten »zur
Rede stellt«, prägender Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses Kärntens bis in die
Gegenwart, was nicht zuletzt das Fresko des Kärntner Barockmalers Josef Ferdinand
Fromiller (1693–1760) im Klagenfurter Landhaus illustriert.25
Die Schilderung der Zeremonie ist in ihren Details uneinheitlich, dürfte aber in
etwa folgendem Ablauf gefolgt sein :
Der Herzog kam, in Bauerngewänder gekleidet, umgeben von einem großen Gefolge, zum
Fürstenstein. Der Bauer fragte die Umstehenden in slowenischer Sprache : ›Wer ist es, der
da herankommt ?‹ Das Volk antwortete ihm : ›Es ist der Fürst des Landes.‹ Der Bauer fragte
weiter : ›Ist er ein gerechter Richter, besorgt um das Wohl des Landes, ist er von freiem
Stand, ein Verteidiger des christlichen Glaubens ?‹ Alle antworteten : ›Er ist es und er wird
es immer sein.‹ Der Bauer stellte die dritte Frage : ›Mit welchem Recht will er mich von
diesem Stein vertreiben ?‹ Alle sagten : ›Er will von ihm Besitz ergreifen um 60 Pfennige,
mit diesen gefleckten Tieren, dein Haus aber soll abgabenfrei sein.‹26
Danach soll der Bauer dem Fürsten einen sanften Backenstreich verpasst haben
und dem Fürsten Platz gemacht haben, der nun mit einem symbolischen Schwert-
schwung das Land formell in Besitz nahm. Dann folgte ein feierliches Hochamt in
der Kirche von Maria Saal, wo der Herzog vom Gurker Bischof gesegnet wurde,
seine bäuerlichen Kleider ablegte und in fürstlichem Gewand anschließend zum
Festmahl überging. Abgeschlossen wurde die Zeremonie am ebenfalls am Zollfeld
gelegenen Herzogstuhl,27 wo Huldigung, Lehenvergabe und Rechtsprechung des
Herzogs durchgeführt wurden.28
Die älteste Schilderung dieses Einsetzungsaktes ist in der Reimchronik des Stei-
rischen Chronisten Ottokar aus dem Jahr 1310 erhalten, auf die um 1340 auch der
Abt Johann von Viktring zurückgegriffen haben dürfte.29 Johann von Viktring war
25 Vgl. das Umschlagbild bei Stejskal, H.: Kärnten (1991).
26 Bogataj, M.: Kärntner Slowenen (1989), 42.
27 Während die Zeremonien am Fürstenstein in die Zeit des karantanischen Fürstentums zurückreichen
dürften, ist der Herzogstuhl nach älterer Forschungsmeinung vermutlich von Arnulf von Kärnten,
möglicherweise in Anlehnung an den Thron Karls des Großen in Aachen errichtet worden. Er ist ein
Doppelthronsitz, dessen eine Seite nach Karnburg, der Pfalz Arnulfs, und dessen andere Seite nach
Maria Saal, dem geistlichen Zentrum Kärntens jener Zeit, gerichtet ist. Neumann, W.: Kärntner Her-
zogstuhl (1985), 21. Jüngere Forschungsarbeiten datieren den Herzogstuhl allerdings deutlich später.
Ogris, A.: Mythos (2011), 620.
28 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 345 ; Ogris, A.: Mythos (2011), 621 f.
29 Johann von Viktring beschreibt die Zeremonie in seinem Hauptwerk Liber certarum historiarum. Die
Stelle findet sich abgedruckt bei Wiessner, H. (Hg.) : Monumenta historica (1958), 15 f.; Neumann,
W.: Wirklichkeit und Idee (1985), 89.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353