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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
vermutlich 1335 selbst Augenzeuge der Einsetzung des Herzogs Otto des Fröh-
lichen, des ersten Habsburger Herzogs, und dürfte seine Beobachtungen auf die
Einsetzungszeremonie Meinhards von Görz-Tirol, der sich 1286 dieser unterzogen
hat, übertragen haben. Die Augenzeugenschaft und die größere Zumutbarkeit der
zeremoniellen Details dem Herzog gegenüber verleihen der Version des Johann von
Viktring höhere Akzeptanz bei den Historikern und Historikerinnen.30
Einflussreich unter den Überlieferungen, die auf Johann von Viktring zurückgrif-
fen, wurde der Bericht des italienischen Humanisten und Gelehrten Aeneas Silvio
Piccolomini.31 Auf Piccolominis Schilderung aus dem 15. Jahrhundert wiederum
greifen im 16. bzw. frühen 17. Jahrhundert auch der Kärntner Geschichtsschreiber
Michael Gothard Christalnick bzw. sein Herausgeber Hieronymus Megiser zurück.32
Christalnicks Historia Carinthiaca entstand im Auftrag der Stände zwischen 1583
und 1588, mitten in einer Zeit sich zuspitzender Auseinandersetzungen zwischen
den mächtigen protestantischen Ständen und dem katholischen Landesfürsten.33 Sie
wurde allerdings erst 1612 in überarbeiteter Form von Hieronymus Megiser un-
ter dem Titel Annales Carinthiae veröffentlicht und sollte der Untermauerung der
Sonderstellung Kärntens als »windisches Erzherzogtum« dienen.34 Die Fürstenein-
setzungszeremonien am Fürstenstein und am Herzogstuhl dienten als Beleg dieser
Sonderstellung und wurden von den Kärntner Ständen als eine Illustration ihrer re-
gionalen Macht gesehen.35 Diese »›windische Ideologie‹ ist Ausdruck eines histo-
risierenden landschaftlichen Sonderbewußtseins des deutschen Kärntner Adels ; es
gipfelt in der Überzeugung, daß Kärnten kein Land sei wie die anderen habsburgi-
schen Erbländer, sondern daß ihm eine hervorragende Stellung unter ihnen und den
übrigen Fürstentümern des Reiches zukomme.«36
Das starke Hervortreten einer eigenen Kärntner Geschichtsdeutung rund um den
Fürstenstein kennzeichnet in diesem Zusammenhang also einen weiteren Sonderfall,
wie dies Wilhelm Neumann in seinem bedeutenden Aufsatz Wirklichkeit und Idee
des »windischen« Erzherzogtums Kärnten37 dargestellt hat. »Vor diesem Hintergrund
förderten die Kärntner Stände intensiver als die Krainer und Steirer eine Histori-
ographie, zu deren Aufgabe auch die Stärkung des Patriotismus und des Selbstbe-
wusstseins des Adels zählte.«38
30 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 345 ; Ogris, A.: Mythos (2011), 621.
31 Vgl. Nótári, T.: Urkundenpraxis (2015).
32 Puntschart, P.: Herzogseinsetzung (1899), 85.
33 Strohmeyer, A.: Widerstand und Gehorsam (2011), 109.
34 Vgl. Neumann, W.: Wirklichkeit und Idee (1985).
35 Strohmeyer, A.: Widerstand und Gehorsam (2011), 109.
36 Neumann, W.: Wirklichkeit und Idee (1985), 81 f.
37 Ebd.
38 Strohmeyer, A.: Widerstand und Gehorsam (2011), 109.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353