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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis250
Rathold [ein Geistlicher am Hof Hemmas, Anm. d. Verf.] hüstelte ehrerbietig und
dachte in aller Untertänigkeit : ›Oh, wollen Euer Edelgestrengen doch öfters solche Güte
und Leutseligkeit bezeigen ! Wie wäre es leicht, zu lieben und zu verstehen !‹120
Güte und Leutseligkeit sind dann aber genau jene Attribute, die der Titelheldin zu
ihrer Beliebtheit verhelfen. So verteidigt Hemma ihre Untertanen gegenüber den
Anschuldigungen eines erzbischöflichen Gesandten :
›Schöne und freundliche Menschen gibt es hier in Eurem Lande. Man sieht es ihren Ge-
sichtern und Kleidern an, daß es ihnen wohl ergeht. Mich wundert es, daß sie sich vom
heidnischen Aberglauben so ungern trennen wollen.‹
›So schlimm, wie es in Salzburg erzählt wird, ist es nicht‹, verteidigte Hemma die Ihren
eifrig. ›Getauft sind sie alle, und alle kommen gerne zur Messe, wenn es ihnen nur möglich
ist. Sie hoffen getreulich, daß der gute und strenge Herr im Himmelssaale ihr mühseliges,
gerechtes Leben belohnen wird. Und gewiß sündigen sie nicht schwerer als die guten Chris-
ten, die in der Nähe Eures Bischofshofes wohnen. Nur in den kleinen Beschwernissen und
Sorgen meinen sie wohl, daß ihnen die Geister und Götterschemen lieber helfen wollten als
der hohe Himmelskönig, von dem sie einmal im Jahre eine drohende Predigt hören. Und
darum treiben sie heimliche Zauberei und schleichen nachts zu den heiligen Bäumen.‹121
In der Verteidigung Hemmas schillert Kritik an der Seelsorgepraxis der Kirche
durch, konkret an der Drohrhetorik des Klerus und an der weiten Entfernung des
kirchlichen Zentrums zu den entlegenen Kärntner Tälern. Viesèr diagnostiziert da-
mit zwei Grundprobleme der Kirchengeschichte Kärntens.
Mit dem niederen Klerus geht Viesèr vergleichsweise milde um. So hat die junge
Hemma in folgender Szene Gewissensbisse, als sie sich zu missgünstigen Gedanken
gegenüber dem Hofkaplan hinreißen lässt :
In der kleinen Kapelle las Herr Simon die Messe. […] Er beeilte sich sehr mit dem Messe-
lesen. Hemma konnte dem Gehaspel seiner Gebete nicht folgen. Nein, sie wollte sich nicht
an ihm ärgern. Er war ein bedauernswerter alter Mann, geplagt von vielen Krankheiten
und Sorgen. Wohl quälte auch ihn das unheimliche, nasse Wetter. Gott verzieh ihm gewiß,
daß er lieber in seiner geheizten Kammer als hier in der feuchten, kalten Kirche war. So
wollte auch sie sich nicht daran stoßen und sich nicht darnach sehnen, einen herzensfrom-
men, klugen Kapellan zu haben, der ihr ein wenig helfen und raten würde, wenn sie zu ihm
käme, anstatt dieses alten Zech- und Raufbruders ihres verstorbenen Schwiegervaters.122
120 Ebd., 64.
121 Ebd., 372.
122 Ebd., 140.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353