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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Anders als in dieser Sage mit historischem Kern kommt der konfessionelle As-
pekt aber in den Familienerinnerungen des Michael Unterlercher zur Sprache. Der
Kärntner Volkskundler Oswin Moro hat 1932 die Kindheitserinnerungen des Ober-
kärntner Lehrers unter dem Titel In der Einschicht herausgegeben. Es handelt sich
vornehmlich um Erinnerungen an die Zeit von 1860 weg, die der etwa Siebzigjährige
Unterlercher im Laufe der 1920er Jahre niedergeschrieben hat. Als Bergbauernbub
in den Nockbergen gibt er insbesondere Einblick in das evangelische Leben einer
Familie, die die Erinnerung an den Geheimprotestantismus im Familiengedächtnis
aufbewahrt hat. Deutlich wird dies zunächst an der Beschreibung der vielen Bücher,
die der in Oberkärntner Mundart Erzählende als selbstverständliches Inventar einer
evangelischen Bergbauernfamilie schildert :
Büacher send ban ins derhoam lei häufig gwesn : Betbüacher, Prödigbüacher, Gsângbüa-
cher, Arznei- und Kräuterbüacher, âlle a zwoa-, dreihundert Jâhr âlt. A Kastl voll in hintern
Stüblan, a Stölla voll untern Trâmbam in der obern Stubm und die böstn in Vâter sein
Gwândkâstn. A Prödigbuach is derbei gwesn, dâs is so groß gwesn wia der hâlbe Tisch
und gânz in Holz und Leder eingebunden mit scheane Schliaßn. In an Kräuterbuach aus’n
Jâhr 1570 send Gmaler gwesn vo dö Kräuter und Bamer. Dönkts önk, aus’n Jâhr 1570 und
Gmaler drin !229
An anderer Stelle schildert Unterlercher nun eindringlich die bedrängenden Erleb-
nisse seiner Vorfahren, wie sie ihm überliefert wurden.
›Die Övangölischn hâmp weiter nix Guats ghât,‹ moant der Vâter. ›Mei Vâter, önker
Öngge, hât noch oft derzöhlt, wia sie lei gânz hoamla, wânn’s Haus guat verspirrt gwesn
is, die Betbüacher und die Bibel untern Bodn auser hâmp. Die Scheandarn send gâr oft
nâchschaugn kömmen, hâmp âber moastla nix gfunen. Dâ ban Pliaßnig muaß a amâl an
övangölischer Bsitzer gwesn sein. Es hoaßt, die övangölischen Büacher warn obern Saustâll
untern Tönn verstöckter gwesn.‹
Sâgg die Muater drauf : ›Mei Muater hât ihre Büacher, a die Buaßroasn, dö wr noch
hâbm, âf der Radl weit untn in Feld in aner Stoangrösl ghât. Wia obm in Haus die Schean-
darn âlls âbgsuacht hâmp, is sie untn ba der Stoangrösl gekniat und hât aus der Buaßroasn
laut gebetet.‹
›Jâ,‹ sâgg der Vâter, ›man terf nit drauf dönkn, wia sie ’n âltn Groamânn in der Nöring,
wo mein Öngge ângekaft hât, wia a Wild umanândergjâgg hâmp und wia die Kinder gsch-
rian hâmp, wia sie von der Muater wöck nâch Siebenbürgen gliefert worn send, bloß weil
die Leut ihrn luthrischn Glaubm nit hâmp aufgebm wölln.‹230
229 Unterlercher, M.: In der Einschicht (1975), 82 f.
230 Ebd., 163.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353