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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
vorgetäuschte Freundschaft mit den pubertierenden Gewerkensöhnen zu schließen,
die im nahe gelegenen Schloss Dornhof zur Schule gehen. Bald gelingt es der hüb-
schen Schwester Askania, den Jugendlichen den Kopf zu verdrehen und sie in ein
Streitgespräch über den Glauben zu verwickeln, das sie im Blick auf ein Heiligen-
bildchen, das ihr vermeintlich unabsichtlich aus der Hand entgleitet, beginnt :
Dabei versenkte sie den Blick fromm und innig in das Bild, küßte es, bekreuzte sich und
sagte : ›Es ist vom Heiligen Vater geweiht und enthält eine kleine Reliquie vom heiligen
Vitalis, der ein besonderer Schutzheiliger aller tugendsamen Jungfrauen ist.‹
Als Anderl [einer der Gewerkensöhne, Anm. d. Verf.] sie überrascht ansah, fragte sie,
welchem Schutzheiligen er sich verlobt habe.
Anderl antwortete etwas betreten : ›Wir sind doch evangelisch !‹
›Evangelisch, wie schade !‹ sagte Askania […]. ›Ihr tut mir leid.‹ –
›Warum leid ?‹ fragte Anderl etwas gereizt.
›Wenn Ihr wüßtet, welch ein hohes Glück es ist, ein Kind der alten heiligen katholischen
Kirche zu sein, dann könntet Ihr mit Eurer Religion nicht zufrieden sein‹, erwiderte sie
und sah ihm mit einem liebevoll mitleidigen Blick in die Augen.
Dieser Blick machte den Anderl völlig verwirrt, aber er bezwang sich und sagte : ›Das-
selbe können wir Evangelischen zu den Katholiken sagen.‹
›Aber nicht mit dem gleichen Recht‹, antwortete sie, aber sie sah an der Miene des
Anderl, daß sie zu weit gegangen war, und um ihre Unvorsichtigkeit wieder gutzumachen,
setzte sie hinzu : […] ›Habt Ihr nicht auch den Wunsch, alle Menschen, die Euch lieb sind,
in Eurem Glauben zu wissen ?‹ Und dabei sah sie ihn wieder mit einem warmen Blick
so ehrlich besorgt an, daß er wünschte, nicht bloß ein evangelischer Ketzer, sondern ein
Türke oder Heide zu sein, um das Maß ihrer Besorgnis um sein Seelenheil vollends ganz
zum Überfließen zu bringen, und er antwortete :
›Wer mir lieb ist, der soll auch mich lieben. Was er glaubt, ist mir dann gleichgültig !‹
›Oh, was seid Ihr für ein arger Ketzer !‹ lachte sie.242
Auch wenn das Geschwisterpaar bald enttarnt wird, tut dies den als perfide geschil-
derten Methoden der Jesuiten keinen Abbruch. Auffällig ist, wie sehr die Erzähle-
rin zunächst die Toleranz von Evangelischen und Katholiken unter den einfachen
Gläubigen betont. Das Volk selbst würde ohne weiteres in Eintracht leben, wenn die
jesuitische Propaganda nicht wäre. So auch in folgender Szene :
Der katholische Pfarrer konnte in den Kirchen von Wolfsberg ungestört seines Amtes wal-
ten und die Angehörigen beider Konfessionen lebten in Frieden nebeneinander, ein Zu-
242 Ebd., 193 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353