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291Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
sagte er, ›aber eure bleichen Wangen, eure gesenkten Häupter gaben Zeugnis für die tiefe
Trauer eurer patriotischen Herzen.‹ Das war ungemein rührend, und die Leute nickten
stumm ergriffen ; diejenigen am eifrigsten, die auf dem Franzosenball am lustigsten getanzt
hatten.290
Dem abschätzigen Bild, das Sittenberger von der Klagenfurter »guten Gesellschaft«
zeichnet, steht eine nahezu verharmlosende, ja faszinierte Bewunderung für die fran-
zösischen Soldaten und, allen voran, ihren Oberbefehlshaber Napoleon gegenüber.
Naiv trotzt Scholastica den Warnungen vor dem Feind durch ihren Verehrer, Herrn
Jesse :
Die Franzosen hätten überall, wohin sie gekommen seien, Recht und Sitte mit Füßen ge-
treten, und insbesondere kein Bedenken getragen, Frauen und Jungfrauen gegenüber den
nötigen Anstand und die schuldige Ehrerbietung gänzlich außer acht zu setzen.
Da mußt’ ich doch wieder lachen. Es werde so schlimm nicht sein, antwortete ich ihm.
›Und übrigens‹, sagte ich, ›wenn so ein Herr Franzose einmal wirklich ungebührlich wer-
den sollte, dann halt’ ich ihm einfach meinen Veilchenstrauß da unter die Nase. Ich möchte
wissen, ob einer noch böse Gedanken haben kann, wenn er die schönen Blumen sieht.‹291
Die Sympathie, die das Mädchen schon im Vorhinein den nahenden Soldaten ent-
gegenbringt, bestätigt sich in dem Oberst Boyer, der in dem Elternhaus Scholasticas
Einquartierung beansprucht. »Er ist liebenswürdig und verbindlich und spricht auch
ein wenig deutsch, da er ein Jahr an der Theresianischen Akademie in Wien war, wie
er mit sagte. Schade, daß er sich so bald zurückzog ! Er hätte mir von Buonaparte
erzählen müssen.«292
Schlussendlich wird die Bewunderung für Buonaparte zur Schwärmerei, als sie
ihn das erste Mal vorbeireiten sieht und von ihm erspäht wird. Bei einem »Freiball«
der französischen Offiziere erscheint dann der Feldherr mit zielstrebigen Absichten
und Scholastica wird von ihm unter den neugierigen Blicken aller Anwesenden »in
eine Nische gezogen«293. Schließlich lässt Napoleon tags darauf der nun von ihren
Gefühlen völlig überwältigten 17-Jährigen in einem Brief kundtun, dass er sie im
Hause der Baronin Kettelhof erwarte. Nach Scholasticas zauderndem Ausbleiben
kommt er aber schlussendlich selbst zu ihr nach Hause. Über die weiteren Details
lässt Sittenberger das Tagebuch schweigen.
290 Ebd., 78.
291 Ebd., 28.
292 Ebd., 39.
293 Ebd.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353