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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis292
Erst zwei Monate später setzt das fiktive Tagebuch wieder ein. Was Sittenberger
nun in den Worten Scholasticas schildert, ist die leidvolle Erfahrung, als »Nestbe-
schmutzerin« dem Schimpfklatsch der eigenen Wir-Gruppe ausgeliefert zu sein.
Wie es aufgekommen ist, weiß ich nicht, doch merkte ich bald, daß die Meinen mit scheuen
Blicken mich musterten, und daß die Leute auf der Straße einander anstießen, wenn sie
mir begegneten, und geschwind etwas tuschelten. Meine Freundinnen gingen verlegen mit
eiligem Gruß an mir vorüber, manche kannten mich gar nicht mehr.294
Die Stigmatisierung der Jugendlichen nimmt ihren Lauf und sie muss nun »be-
greifen, was es heißt, ausgestoßen [zu] sein von den Menschen, ausgestoßen und
in Schande.«295 Diese Situation eskaliert, als der Vater die Gerüchte aufnimmt, die
Tochter zur Rede stellt und nach ihrem Geständnis vom Hause verweist. Erst nach
dramatischen Gefühlsausbrüchen verständigen sich Vater und Tochter darauf, die
Sache ruhen zu lassen. Das Tagebuch – und damit die Novelle – endet mit einem
trotzigen Appell der jungen Protagonistin : »Rümpft die Nase über mich, wenn ihr’s
schon nicht anders könnt – mein Glück aber könnt ihr mir nicht rauben. Das hab’ ich
gehabt, und das bleibt bei mir bis zum [sic !] meinem Tode.«296
Sittenbergers Novelle bietet also einen alternativen Blick auf die Franzosenzeit
und schert damit aus dem vorherrschenden patriotischen Narrativ seiner Zeit aus.
Generell verlor aber die Verankerung jener Zeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens
an Bedeutung, als man nach Abwehrkampf und Volksabstimmung ein neues Kärnt-
ner Heldennarrativ formte. Die Dominanz dieser Erinnerungstradition war wohl
ein Mitgrund dafür, warum spätere Versuche, sich mit der Franzosenzeit in Kärn-
ten literarisch auseinanderzusetzen, wenig Aufmerksamkeit fanden. Dieses Schicksal
teilt auch Dolores Viesèrs Roman Nachtquartier (1971). Das Spätwerk der schon aus-
führlich in Kapitel 2.2 dieses dritten Hauptteils behandelten Autorin wurde wenig
beachtet, ist aber durchaus beachtenswert, weist sie doch in ihrer kritischen Haltung
zur Kärntner Gesellschaft dieser Zeit einige Parallelen zu Sittenberges Novelle auf.
Auch bei Viesèr ist die Hauptfigur – zumindest im ersten Teil des Buches – eine
Kärntner Frau aus wohlhabendem Hause, die sich in eine Liebesaffäre mit einem
französischen Besatzungssoldaten stürzt. Auch in Nachtquartier muss die Protago-
nistin dafür einen hohen Preis bezahlen, und zwar den höchsten : das eigene Leben.
Wenngleich Viesèrs Roman deutlich düsterer ist als Sittenbergers Novelle, zeichnet
auch Viesèr ein differenzierteres, über weite Strecken sogar positives Bild der Fran-
zosen, während die einheimische Bevölkerung anhand einzelner Protagonisten und
294 Ebd., 78 f.
295 Ebd., 99.
296 Ebd.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353