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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Als ein paar französische Soldaten Einbrecher im Gutshaus von Gertrauds Familie
vertreiben, muss sogar die Köchin bekennen : »Aber das Schlimmste laßt unser Herr-
gott doch nicht zu. Wann Er will, sind sogar die Franzosen zu etwas gut«300.
Demgegenüber herrscht freilich der »Schimpfklatsch« gegenüber jenen vor, die
sich mit den Franzosen einlassen – Viesèr beschreibt hier literarisch jene soziologi-
sche Konstellation, die Norbert Elias als Etablierte-Außenseiter-Figuration301 analy-
siert hat. Dem Keuschheitsideal des eigenen Wir-Bildes wird der Sittenverfall durch
die Eindringlinge gegenübergestellt. Fromme Frauen wie Gertrauds Base Agathe
und wetternde Kleriker verteufeln die Besatzer :
›Ja –‹, seufzte Agathe gedehnt. ›Du hast wohl keine Ahnung, wie es da bei uns zugeht ? Seit
die französischen Reiter in unsren Dörfern liegen, ist es aus mit aller Tugend und Sittsam-
keit. Da wird gespielt und gewettet und anderes getrieben, was eine ehrbare Frau nicht ein-
mal aussprechen kann ! Wie war es doch so anders in unseren Mädchentagen ! Wir haben
nichts gekannt als Arbeit und zur Abwechslung eine Wallfahrt, einen Spinnstubenabend
beim Nachbarn. Wir haben unsere Blumenstöcklein gepflegt und sind am Spinett geses-
sen und haben uns nicht getraut, ans Fenster zu gehen, wenn draußen die Burschen vor-
beigezogen sind. Aber jetzt ! Heido ! Da gibt es Tanzereien, eine nach der anderen, Ko-
mödien werden gespielt, wo nichts als sündhafte Verliebtheit darin vorkommt, von Mord
und Selbstmord nicht zu reden ! – Was dabei herauskommt, siehst du ja : Die minderen
Dirndlein, die früher in den Dienst gegangen sind, die laufen mit den Franzosen und lassen
sich von ihnen herausputzen. Und die Töchter aus den guten Häusern sind ihnen noch
neidig und sekkieren ihre Väter und später ihre Männer bis aufs Blut, damit die sie auch
von einer Lustbarkeit auf die andere führen. Ach, Gertraud, ich könnt’ dir erzählen – ! Hast
du gehört, daß der Pfarrer von Schönfeld die Franzosen auf der Kanzel Dämonen geheißen
hat, die in Scharen aus der Hölle ausgeschwärmt sind, um vor dem Jüngsten Gericht die
Kinder Gottes zu verführen ?‹302
Wer sich mit solchen »Dämonen aus der Hölle« einlässt, habe die Konsequenzen zu
tragen. In den Augen Agathes müsse dieser bis zum Selbstmord reichen, der ihr als
gerechte Strafe erscheint, im Gegensatz zur scheinheiligen Vertuschungspraxis in so
manchen wohlhabenden Häusern :
›Bald haben wir mehr ledige Kinder als eheliche ! Ledige Kinder ! In den besten Häusern !
Ich hätt’ mich müssen umbringen, wenn mir so etwas passiert wär. Aber jetzt werden sie
300 Ebd., 53.
301 Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter (2002).
302 Viesèr, D.: Nachtquartier (1971), 56.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353