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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Viesèr beschreibt hier die festgefahrenen Zwangsstrukturen einer Gesellschaft, in der
die etablierten Ordnungsverhältnisse als gottgegeben angesehen werden und die zu-
gewiesenen Rollen von den machtschwächeren Gruppen selbst derart internalisiert
werden, dass abweichendes bzw. aufbegehrendes Verhalten darin als Ausscheren aus
dieser Ordnung wahrgenommen und sanktioniert wird. Diese Autoritätsstrukturen,
die für vormoderne Gesellschaften mit hohen innergesellschaftlichen Machtgefällen
typisch sind, sind aber nicht nur durch die Beziehung der Geschlechter gekenn-
zeichnet, sondern auch durch jene von Herren und Untertanen. Folgerichtig prägen
Entsagung und Genügsamkeit das Leben der meisten Untertanen, allen voran der
Dienstbotenschicht, deren Schicksal die Autorin in diesem Roman nicht ausspart.
Als die treue Hausmagd der Rabensteiner Gutsbesitzerfamilie stirbt, werden Ger-
traud erst die Entsagungen ihrer Dienerin bewusst :
Was für eine große Seele verbirgt sich doch in diesem unbeholfenen Leib, dem es nie gege-
ben war, von dieser Größe etwas auszusagen ! Wie konnte sie [die Magd, Anm. d. Verf.] nur
auf ihr eigenes, einziges Leben so stumm verzichten ? Es muß ihr wohl weh getan haben,
daß man das Opfer so unbedankt, so selbstverständlich hinnahm. Gewiß hatte sie auch
oft Sehnsucht gehabt nach einem Menschen, der ihr ganz und allein gehörte, nach einem
eigenen Herd. Aber sie hatte ihr Schicksal hingenommen ohne Bruch und Minderung.307
Jene Untertanenmentalität, wie sie hier beschrieben wird, tendiert dazu, autoritäre
Persönlichkeiten als ordnungsstiftende Schutzherren anzusehen, die Sicherheit und
Führung vermitteln. Viesèr arbeitet diesen Aspekt an der Beziehungsdynamik heraus,
die sich ergibt, als Leopold auf einen verwahrlosten Buben trifft, dessen Familie auf
einem von ihm ersteigerten Gehöft haust und nun delogiert werden sollte. Leopolds
autoritäres Auftreten vermittelt dem Knaben Sicherheit und Führung : »Es wäre ihm
[dem Knaben, Anm. d. Verf.] lieber gewesen, wenn er [Leopold, Anm. d. Verf.] noch
ein wenig mit ihm geredet hätte, so wohl tat ihm die feste, barsche Stimme und diese
herrische Überlegenheit, der man vertrauen konnte.«308
Leopold erkennt in dem verhärteten Knaben sich selbst wieder und so holt ihn
in dieser Begegnung seine eigene Vergangenheit ein. So wie der Knabe den vaga-
bundierenden Vater ersetzen und die dahinsiechenden Geschwister versorgen muss,
musste auch Leopold als 13-Jähriger die Geschicke seines Hofes in die Hand neh-
men, nachdem der spiel- und alkoholsüchtige slawische Knecht Cyrill sich nach dem
Tod seines Vaters des Hofes bemächtigt und eine Affäre mit der Mutter begonnen
hatte. Und so spiegelt der Konflikt zwischen Leopold und Cyrill schließlich auch
den Kärntner Konflikt mit dem Slawentum wider. Parallel zum Habitus, dessen Ge-
307 Ebd., 180 f.
308 Ebd., 407.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353