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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis300
folgende Szene vom darniederliegenden Großbauern, zu dessen Sterbebett man den
Pfarrer gerufen hat, zum Ausdruck bringt :
›Die heilige Ölung kann ich ihm geben‹, wandte er [der Pfarrer, Anm. d. Verf.] sich an
Gertraud, die bleich und starr hinter ihm kniete. ›Aber die Wegzehrung darf ich ihm ohne
Beichte nicht mehr reichen. – Ihr alle könnt also bleiben und beten, daß Gott seiner armen
Seele noch einen Augenblick der Gnade schenken möge.‹ […]
Die Leute hielten nicht sehr viel von ihrem eigenen Beten, denn schließlich hatte der
Herrgott bei dem alten Sünder nicht mehr einkehren wollen, sondern hatte ihm das Tor
der Gnade vor der Nase zugeschlagen. Nur der Gregor, dem die klare Vernunft man-
gelte, lauschte in sich hinein, als höre er dort das arme, beschmutzte Wesen klagen, das so
klein und verloren hinter der mächtigen Hoffart und Gewalt zerwürgt worden war. Aber
es lebte, – der Gregor hörte es weinen. Und da mußte es doch auch der Herrgott hören.
Der Gregor wußte : Seine Barmherzigkeit war sehr groß.315
Der herrische Patriarch, dessen letzte Augenblicke hier beschrieben werden, kann
nach einem Leben voll »mächtiger Hoffart und Gewalt« nur noch auf die unend-
liche Barmherzigkeit seines Schöpfers hoffen. Auch sein Schwiegersohn Leopold
wird schlussendlich mit dem »armen, beschmutzten Wesen« seines Selbst konfron-
tiert. Sein bisheriges Leben erscheint als Inbegriff der Gottesferne, die ihm nun
im Schlusskapitel in Konfrontation mit dem Juden Jakob Grün offenbar wird. Bis
dahin hat er sich verlassen auf »[d]ie trockene Sicherheit seiner taufscheinverbrief-
ten Rechtgläubigkeit, die ihn sonst kaum in seinem Wandel störte«316. Als der Jude
dem neugierig gewordenen Leopold über seinen Glauben Auskunft gibt und vom
Warten auf den Messias spricht, entgegnet Leopold : »Wir haben ihn schon«. Die
Antwort des Juden ist entlarvend : »Oh hättet ihr ihn ! So aber müssen wir warten.«
Sie lässt den herablassenden Leopold zunächst in Spott verfallen, doch dann beginnt
ein inneres Ringen, ein Prozess, der Schritt für Schritt zur Läuterung führen wird.
Aus Spott wird Sehnsucht – »und er wünschte plötzlich, auch so warten zu dürfen
auf einen Erlöser« –, aus Sehnsucht wird Scham – »Seine Rührung beschämte ihn.
Er war ja getauft, er hatte seinen Christus schon« –, und aus Scham wird Gottesha-
der – »Wenn Christus der Erlöser war, warum erlöste er ihn nicht, warum heilte er
ihn nicht, warum begegnete er ihm nicht ? Warum ließ er ihn in solcher Verlorenheit,
daß ihm das Warten auf Ihn schon als etwas Köstliches erschien ? Die Antwort fand
er nicht.«317
315 Viesèr, D.: Nachtquartier (1971), 32.
316 Ebd., 399.
317 Ebd.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353