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303Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
gegnen in ganz Kärnten auf Schritt und Tritt, die jährlichen offiziellen Feierlichkei-
ten rund um den 10. Oktober vergehen kaum einmal ohne politische Diskussionen.
Auffallend ist, dass der Diskurs häufig hoch emotionalisiert geführt wird. Selbst die
fachwissenschaftliche Auseinandersetzung unter Historikern und Historikerinnen
kann sich dieser Emotionalisierung nicht entziehen.325 »Abwehrkampf und Volks-
abstimmung stellen eindeutig die herausragenden Erfolgskapitel der Kärntner neu-
eren Geschichte dar. […] Von allen strittigen Grenzproblemen der Ersten Republik
wurde nur die Frage nach der Kärntner Grenzziehung nicht durch Spruch der Alli-
ierten, sondern durch eine demokratische Wahl entschieden.« Auch wenn es noch
andere Erfolgsgeschichten Kärntens in der Zweiten Republik gebe, sei »kein Thema
im 20. Jahrhundert so identitätsbildend gewesen wie jenes, das um das Credo ›Kärn-
ten frei und ungeteilt‹ kreist.«326
Fachliche Einwände, die den faktischen Nutzen des bewaffneten Widerstandes
der Kärntner Bevölkerung gegen die jugoslawischen Aggressoren angesichts der
schlussendlich auf diplomatischem Weg erfolgten Lösung des Konfliktes infrage
stellten, wurden vehement zurückgewiesen, die Bezeichnung des Abwehrkampfes
als »Mythos« mitunter sogar als Kränkung empfunden.327 »Nach 25 Jahren wissen-
schaftlicher Kontroverse kann heute festgestellt werden, daß alle gegen die soge-
nannten Kärntner Mythen erhobenen Einwände, wie jener von der Nutzlosigkeit
des Abwehrkampfes, sich selbst als Mythen erwiesen haben.«328
Das vorliegende Kapitel interessiert sich nun aber eben für diese Mythen, inso-
fern sie im Sinne einer identitätsstiftenden Vergangenheit als selbstverständlicher
325 Vgl. dazu die Feststellung von Fräss-Ehrfeld : »Historiker, die sich berufsmäßig mit der Erarbeitung
der Kärntner Geschichte befassen, werden als offiziöse Landesidentitätssicherer klassifiziert, die zum
Nutzen der Politik Mythen erzeugen und zementieren.« Interessanterweise sei diese präjudizierende
Haltung Historikern und Historikerinnen gegenüber in keinem anderen Bundesland derart ausge-
prägt. »Die Kritiker kommen aus den Reihen der Slowenen diesseits und jenseits der Karawanken
und aus Historikerzirkeln diverser Hochschulen in Österreich.« Fräss-Ehrfeld zufolge werden die
Kärntner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als ideologische Stützen einer Politik verun-
glimpft, die den Gegensatz zwischen dem deutsch- und dem slowenischsprachigen Kärnten betone,
Urängste kultiviere und einen, wenn auch »harmlosen« Hang zum rechtspolitischen Deutschnatio-
nalismus habe. Fräss-Ehrfeld, C.: Kärntner Landesbewußtsein (1998), 777.
326 Ebd., 778.
327 Ogris, A.: Kärntens Abwehrkampf (1995), 133.
328 Fräss-Ehrfeld, C.: Kärntner Landesbewußtsein (1998), 778. Wenn im Kontext dieser Arbeit Abwehr-
kampf und Volksabstimmung als »Mythos« bezeichnet werden, bezweckt dies keineswegs die Re-
lativierung oder gar Infragestellung der Ereignisse zwischen 1918 und 1920, sondern bezieht sich
auf den gedächtnisgeschichtlichen Ansatz Jan Assmanns, demzufolge der Begriff völlig neutral zu
verstehen ist. »Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird,
ist Mythos, völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist.« Assmann, J.: Das kulturelle Ge-
dächtnis (1992), 76.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353