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313Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Die Erpressungsversuche durch den jungen Pfarrer waren sicherlich nicht auf Geist-
liche beschränkt, sind aber natürlicherweise von den politischen Akteuren in gesell-
schaftlichen Machtpositionen ausgegangen. Die Pfarrer nahmen schließlich häufig
auch die Rolle des Bürgermeisters ein.
Der junge Pfarrer. ›Aber ich bin nicht hart und unerbittlich.‹ (Mit scheinheiliger Güte.)
›Ich bin besser, als die Gemeinde von mir glaubt.‹ (Als müsse er sich gegen sich selbst
verteidigen, mit der inneren Pose des Rechtes und einer gewissen Art von Biederkeit.)
›Die Zeit fordert von mir, daß ich mich zu teilen habe (Gebärde mit den Händen) in den
Priester und in den Bürgermeister. Einer davon muß anders sein als der andere. Es ist eine
schwere, harte Zeit ; nur der ist ihr gewachsen, der ebenfalls schwer und hart ist. Das Herz
tut manchmal selber weh ; aber zu richten hat man sich immer nach einer höheren Verant-
wortlichkeit, nicht nach dem Schmerz oder der Freude von einzelnen …‹ (Mit Beziehung.)
›Aber ich kann … mir ja das Begräbnis der Magd überlegen.‹366
Die letzte Bemerkung des Pfarrers spielt auf den Umstand an, dass die Weigerung
der Kirche, Selbstmörder kirchlich zu bestatten, als ungerechter Willkürakt emp-
funden wurde. Hier wird die religiöse Überzeugung der Bäuerin, an die diese Worte
gerichtet sind und die um das Seelenheil ihrer Magd fürchtet, wiederum zur Er-
pressung missbraucht. Zu diesen Erpressungsversuchen nimmt Perkonig im Vorwort
Stellung :
Je näher die Abstimmung kam, desto häufiger und gewalttätiger wurden die Versuche von
Stimmnötigungen. Jegliche Art von Verlockung und Bestechung ward geübt ; Erpressun-
gen geschahen immer wieder. Viele Bekenntnisse wurden aus Scheu und Furcht vor der
Anklage nicht laut. Dem Heimweh der Flüchtlinge, der Sorge der Zurückbleibenden aber
hielten stets Zuversicht und Glauben an Recht und eigene Kraft die Waage.367
Die Standhaftigkeit der treuen Kärntner und Kärntnerinnen, die Perkonig hier so
stark betont, ist wesentlicher Bestandteil des Kärntner Selbstbildes geworden und
mit den rituellen Begehungen des Kärntner Abwehrkampfgedenkens nachhaltig in
das kulturelle Gedächtnis des Landes eingesickert. Es umschreibt nichts anderes als
jenen Aspekt des Kärntner Habitus, der als Reaktion auf eine Bedrohung von außen
verstärkte Loyalität nach innen fordert. Dieses Thema wird auch im Vorwurf des
sich widersetzenden Großvaters an den Gemeindediener, der ihm die Ausweisungs-
papiere überbringt, abgehandelt :
366 Ebd., 54.
367 Ebd., 9.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353