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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis320
wachsenen Selbstbewusstsein dieses Milieus. Seine Genese ist das Ergebnis der oben
beschriebenen Auseinandersetzungen zwischen den Landständen und der Zentral-
macht auf dem Rücken der Bauern, die einen Habitus des Widerstands gegen Staat
und Obrigkeiten ausprägten.
Lobisser Kindheit fällt in die Zeit des erwachenden Nationalbewusstseins, das er
in einer Erinnerung an den »Tomele«, den Bruder eines Schulkameraden, dokumen-
tiert : »Als Ende der [achtzehn]neunziger Jahre der Wolff [sic !] und der Schönerer
durchs Land zogen, ging Tomele mit ; der Verkünder der alldeutschen Idee brauchte
einen Trabanten aus dem Bauernstand.«394 Lobissers Erinnerung dokumentiert hier,
auf welche Art die deutschnationale Idee in jener Zeit auch in so entlegenen Gegen-
den wie bei den Oberkärntner Bauern verbreitet wurde. Die Propagandeure zogen
offenbar wie religiöse Erweckungsprediger durchs Land und suchten Jünger für ihre
Mission. Eine Politisierung Lobissers in so jungen Jahren brachte dieses Erlebnis
aber nicht mit sich. Ein politisches Bewusstsein entwickelte der Künstler erst später,
in den 1930er Jahren. Lobisser bezeichnet sich öfters selbst als einigermaßen naiv
und an solchen Dingen wenig interessiert.
Naivität und Desinteresse kennzeichnen auch den Beginn von Lobissers geist-
licher Karriere, die er mehr einem Wunsch der Mutter folgend einschlug als aus
einem eigenen spirituellen Interesse.
Alles, dies und jenes, hätte in mir den Gedanken aufleuchten lassen sollen, daß ich mir den
Weg in den geistlichen Stand doch überlegen soll ; aber in mir war kein Schwung, kein
Drang. Jenseits von gut und böse, nicht begeistert und auch nicht abgeneigt ging ich wie
ein Kalbl von einem Stall zum andern aus der Matura in die Theologie. Alles, was gut,
schön, Arbeit, Selbstbestimmung, ist bei mir erst spät gekommen.395
Lobisser war nach der Volksschule mit zwölf Jahren ins bischöfliche Knabensemi-
nar Marianum in Klagenfurt eingetreten – »die geistliche Brutanstalt«396, wie er es
nannte. Nach der Matura ließ er sich von einem Onkel überreden, ins Stift St. Paul
im Lavanttal einzutreten : »Da wirst du Professor, bist ein geachteter Mann, hast
gutes Essen und ein’ gut’n Wein«397, soll dieser argumentiert haben.
394 Ebd., 40. Karl-Hermann Wolf (1862–1941) war ein deutsch-radikaler böhmischer Landtagsabgeord-
neter. Der in Teil I Kapitel 3.3.2 schon genannte Georg von Schönerer (1842–1921) war einer der
Führer der deutschnationalen Bewegung. Als radikaler Antisemit und Antiklerikaler wurde Schönerer
u. a. zum Vorbild Hitlers.
395 Ebd., 54.
396 Ebd.
397 Ebd.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353