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337Sieben
Dimensionen des Kärntner Habitus
in einer bestimmten Region denselben, mit einer größeren Gruppe von Menschen
geteilten Ausdrücken eine bestimmte Klangfärbung verleiht und damit den Sprach-
habitus der Menschen dieser Region kennzeichnet. So sind auch die im Folgenden
vorgestellten »sieben Dimensionen des Kärntner Habitus« mehr oder weniger in
allen menschlichen Beziehungsgeflechten auffindbar, sprechen aber, um im Bild zu
bleiben, einen spezifisch regionalen »Dialekt«, der sich aus der Zusammenschau der
historischen Habitusgenese und seiner Widerspiegelung im kulturellen Gedächtnis
nun näher beschreiben lässt. Diese Dimensionen sind weder trennscharf noch in sich
geschlossen. Vielmehr existieren fließende Übergänge und Interdependenzen, so wie
es die Wirklichkeit auch nahelegt. Im Idealfall dienen sie als Diskussionsgrundlage
für weitere Untersuchungen.
1. Die Dimension der Obrigkeitskritik. Diese Dimension bezieht sich auf abstrakte
übergeordnete Institutionen, denen tendenziell starke Skepsis und Misstrauen ent-
gegengebracht werden. Vertreter und Vertreterinnen dieser Institutionen werden
pauschal als »die da oben« abgelehnt, wenn deren Handeln als Eingriff in die Frei-
heitsrechte des Individuums wahrgenommen wird. Dies zeigt sich gegenwärtig an
der hohen Skepsis gegenüber politischen Gebilden wie Parteien, dem Staat oder der
Europäischen Union, nicht zuletzt aber auch gegenüber der Institution Kirche, wenn
sie durch gesetzliche Regelungen oder durch (sexual)moralische Disziplinierungs-
versuche Zugriffe auf das Privatleben der Menschen vornehmen. Solche vermeintli-
chen oder realen Versuche generieren einen habituell verankerten Widerstandsim-
puls. Er äußerte sich historisch im kryptoprotestantischen Widerstand gegenüber
dem habsburgischen Konfessionalisierungszwang, im militärischen Widerstand
gegen den Zugriff von Okkupationsmächten wie dem napoleonischen Frankreich
oder dem SHS-Staat und schließlich im illegalen nationalsozialistischen Widerstand
gegen das ständestaatliche Regime. Illustriert wurde diese Facette des Habitus ein-
drücklich durch Lobissers Holzschnitt Bauernspruch (vgl. Abb. 4), aber auch durch
zahlreiche literarische Beschreibungen, von Dolores Viesèrs Hemma von Gurk und
Emilie Zennecks Glaubensstreiter über die patriotische Literatur zur Franzosenzeit
bis hin zu Perkonigs Heimsuchung. Schlussendlich schillerte dieser Aspekt auch in
den Berichten der Kärntner Kleriker zur nationalsozialistischen antiklerikalen Agi-
tation, wie sie im Kapitel 2.3 des zweiten Hauptteils ausgewertet wurden, deutlich
durch.
Eng verknüpft mit der Dimension Obrigkeitskritik, aber in ihrer konkreten Aus-
gestaltung wesentlich davon zu unterscheiden, ist die zweite Dimension des Kärnt-
ner Habitus, die Autoritätsdimension.
2. Die Dimension der Autorität ist eine Beziehungsdimension, die nun nicht mehr
eine abstrakte, imaginierte Obrigkeit im Blick hat, sondern konkreten sozialen Fi-
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353