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339Sieben
Dimensionen des Kärntner Habitus
thisierten mit den Widerstandshaltungen jener, die sie observieren und maßregeln
sollten. So waren in der Zeit des konfessionellen Absolutismus viele lokale Beamte
und zum Teil auch lokale kirchliche Akteure selbst Kryptoprotestanten. Ähnliches
ließ sich für die Zeit des Ständestaates aus den Beschwerdeschriften einzelner Kleri-
ker, die gegen das Vorgehen der Bezirkshauptmannschaften wetterten, herauslesen.
Ein Großteil der behördlichen Akteure vor Ort brachte dem herrschenden System
wohl ähnlich geringe Sympathien entgegen wie der Rest der Bevölkerung.
Wer sich in solchen Systemen etablieren oder einfach nur »überleben« möchte,
braucht eine gewisse Adaptionsfähigkeit. Diese Fähigkeit kennzeichnet die dritte
Dimension.
3. Die Dimension der Anpassungsfähigkeit. Der Widerstand gegenüber »denen da
oben«, wie er in der ersten Dimension charakterisiert wurde, ist häufig ein subver-
siver. Die äußere Anpassungsfähigkeit an herrschende Verhältnisse, die insgeheim
nicht akzeptiert werden, ist eine Facette des Kärntner Habitus, die sich spätestens
mit den kryptoprotestantischen Verhaltenscodes im konfessionellen Zeitalter aus-
zuprägen begonnen hat und bis in die Zeit des Ständestaates weiter vertieft und
kultiviert wurde. Sie ist jene Verhaltensweise, die Hans Sittenberger im Tagebuch
der Scholastica Bergamin an der Klagenfurter Stadtbevölkerung ebenso schonungslos
aufdeckt, wie sie Christine Lavant im Wechselbälgchen der scheinheiligen Dorfbe-
völkerung in ihrem Verhalten gegenüber dem Duldiger-Pfarrer angedeihen lässt.
Womöglich ist auch die sukzessive Germanisierung slowenischsprachiger Kärntner
und Kärntnerinnen seit dem 19. Jahrhundert ein Ausdruck dieser Habitusfacette.
Jedenfalls aber spiegeln auch die Biographien einiger der untersuchten Kärntner
Kunstschaffenden prototypisch jene Anpassungsfähigkeit wider, die wohl zu einem
Teil auch als Überlebensstrategie und nicht nur als bloße Wendehalsigkeit gesehen
werden muss. Deutlich war dies an Josef Friedrich Perkonig zu sehen, der zunächst
als Funktionär des Ständestaates agierte, sich dann bereitwillig in den Dienst der
Nationalsozialisten stellte und schließlich nach dem Krieg als versöhnlicher De-
mokrat auftrat. Ähnliches und mehr noch kann von Switbert Lobisser behauptet
werden, dessen Leben als »religiös unmusikalischer« Benediktinermönch das »So-
Tun-als-ob« zur Alltäglichkeit werden ließ und der im Ständestaat trotz innerlicher
Distanz zur Kirche weiterhin von deren Aufträgen abhängig war, bis er schließlich
unter den nationalsozialistischen Machthabern zum gefeierten Künstler wurde. Do-
lores Viesèr hingegen hatte als katholische Schriftstellerin in der Zeit der Nazi-
Diktatur wohl keine andere Wahl, als ihre Tätigkeit ruhend zu stellen, wenngleich
ihr behaupteter Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer in Zweifel gezogen
werden muss.
Opportunistische Haltungen sind also nicht ausschließlich Charaktersache, son-
dern auch Ausdruck eines hohen Loyalitätsdrucks innerhalb einer Wir-Gruppe. Aus
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353