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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis342
nicht unterdrückt, sondern der sie ausspricht und der sie oft aussingt, und das ist
von ungeheurem Wert«442, schrieb Erwin Ringel einst. Natürlich entspringt dieses
Bild eines »liberalen« Umgangs mit Emotionen ein Stück weit der Konstruktion
eines Ideals. So ließ sich bspw. an Dolores Viesèrs Charakterisierung Leopolds in
Nachtquartier ebensogut jene Distanziertheit und Sprachlosigkeit im Umgang mit
emotionalen Bedürfnissen nachvollziehen, wie sie für autoritäre Beziehungsmuster
im ländlichen Milieu abseits des bürgerlich-romantischen Familienideals typisch
sind. Abgesehen davon begegnet man aber nicht nur im Kärntnerlied einem hohen
Ausmaß an Emotionalität, auch der öffentliche, allem voran der politische Diskurs
ist in Kärnten stark emotionalisiert.443 Ähliches offenbarten die im zweiten Haupt-
teil analysierten Berichte zur Kirchenaustrittsbewegung im »Christlichen Stände-
staat«. Viele der dort zur Sprache gebrachten Konflikte zwischen Klerus und Bevöl-
kerung wurden auf stark emotionaler Ebene ausgehandelt. Häufig stand die Person
des Pfarrers selbst, der als streitbarer Hirte nicht immer eine respektvolle Meinung
von seinen »Schäfchen« hatte, den nicht minder emotional argumentierenden und
handelnden Pfarrmitgliedern gegenüber. Die affektbetonte Wortwahl der Kleriker,
die etwa von einer »aufgeheizten Stimmung«, von »Haß«, »Verbitterung« und von
»innerem Grimm« der Bevölkerung gegenüber Staat und Kirche berichteten, illus-
triert dies ebenso wie die Einblicke, die einige Kleriker in ihr eigenes Seelenleben
gewährten, wenn sie Beschimpfungen auf offener Straße über sich ergehen lassen
mussten oder die Abhaltung des Religionsunterrichts als »entsetzlich« erlebten.
Dieser Beziehungsaspekt zwischen Pfarrer und Pfarrbevölkerung spiegelt sich auch
in der siebenten und letzten Dimension des Kärntner Habitus wider.
7. Die Dimension der sexuellen Permissivität. Kirchliche Tugend- und Sexualvorschrif-
ten wurden in Kärnten tendenziell weniger verinnerlicht als in anderen Regionen
Österreichs. Die auch gegenwärtig noch höchste Rate an unehelichen Kindern zeigt,
inwiefern dieses sozialgeschichtliche Phänomen habitualisiert wurde : Während die
sozialen Heiratsschranken für die Dienstbotenschicht, in der dieses Phänomen be-
sonders stark verbreitet war, schon lange nicht mehr existieren, sind vormals still-
schweigend geduldete »unerwünschte Nebenwirkungen« dieser Heiratsschranken
in breit akzeptierte Verhaltensweisen übergegangen. Es »ist nichts dabei«, vorehe-
lichen Geschlechtsverkehr zu praktizieren und uneheliche Kinder zu bekommen.
Pfarrer, die wie der Duldiger-Pfarrer in Lavants Wechselbälgchen die sexuellen »Ver-
fehlungen« ihrer Pfarrmitglieder sanktionieren oder gar eine »Kärntner Hochzeit« –
so wird die nachträgliche Heirat zur Legitimierung unehelicher Kinder augenzwin-
kernd bezeichnet – verweigern, werden folgerichtig als weltfremd wahrgenommen.
442 Ringel, E.: Kärntner Seele (2000), 20 f.
443 Mit diesem Aspekt beschäftigt sich besonders Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353