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351Zusammenfassung
über hinaus anhand eines stark emotional verankerten Heimatbewusstseins beschreiben.
Die Naturlandschaft Kärntens stellt darin einen religiös aufgeladenen Bezugspunkt dar.
Der einfache, naturverbundene Bauer erscheint in dieser ersatzreligiösen Konstruktion
als Ideal, seine Treue zur Heimat als höchster Wert. Der idealisierte Widerstand ge-
genüber realen oder imaginierten Bedrohungen von außen hat seine Entsprechung in
einem starken Loyalitätszwang nach innen, auf die eigene Wir-Gruppe.
3. Im Verlauf der Habitusentwicklung wurde die katholische Kirche in weiten Teilen
der Bevölkerung Kärntens als Disziplinierungsorgan der politischen Zentralmacht
wahrgenommen. Die Prägung dieser Beziehung hat weit zurückreichende histori-
sche Hintergründe, ist aber auch natürlichen, räumlichen Gegebenheiten geschul-
det. Die geographische Rand- und die topographische Extremlage waren einerseits
Ursache der Exponiertheit gegenüber dem Durchzug von Fremdvölkern wie den
Osmanen oder Ungarn in der Frühen Neuzeit, begünstigten andererseits die starke
territoriale Zersplitterung des Landes und damit in weiterer Folge die Macht der
lokalen Eliten, die mit der Reformation ihren Höhepunkt erreichte. Dem entspricht
die relative Schwäche der habsburgischen, katholischen Zentralmacht in Kärnten,
die sich hier nach dem Ersten Weltkrieg in einer politisch gepflegten Anti-Wien-
Haltung fortsetzte. In den Osmanenstreifzügen, in der Gegenreformation, im kon-
fessionellen Absolutismus, in den Franzosenkriegen, im Zuge der Gebietsansprüche
des SHS-Staates, schlussendlich im »Christlichen Ständestaat« wiederholten sich in
Kärnten die Erfahrungen des Fremdeingriffs und der existenziellen Bedrohung der
Wir-Gruppe immer wieder. Bauernkriege, Geheimprotestantismus und schließlich
Nationalismus und Nationalsozialismus sind in diesem Sinne als Widerstandsbewe-
gungen zu verstehen, die sich diesem Zugriff entziehen wollen.
4. Speziell die Zeit zwischen 1933 und 1938 erlebten viele Kärntner und Kärntnerin-
nen als eine bedrückende Wiederkehr der Disziplinierungs- und Verfolgungsmaß-
nahmen des konfessionellen Absolutismus. Die habituell verinnerlichte Widerstands-
haltung führte zu einem starken Zulauf zu illegalen oppositionellen Bewegungen,
insbesondere zur nationalsozialistischen. Sie bediente einen ausgeprägten Antikleri-
kalismus, der in gewisser Weise auch die Tatsache kompensierte, dass es kaum Kärnt-
ner Juden und Jüdinnen gab, auf die der gewiss dennoch vorhandene Antisemitismus
projiziert werden konnte. Die Konflikte zwischen Klerus und Bevölkerung in dieser
Zeit waren von hoher Emotionalität geprägt und stellten die Seelsorger vor große
persönliche Belastungsproben, offenbarten aber auch menschliche Schwächen der
Kleriker. Die antikatholische Kirchenaustrittspropaganda war in vielen Fällen aber
ebenso eine Kirchenübertrittspropaganda, an der auch evangelische Geistliche ent-
scheidend mitwirkten, wenngleich es ebenso andere, pragmatische oder alternativre-
ligiöse Motivlagen für die Abkehr von der katholischen Kirche gab.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353