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Zusammenfassung und
Ausblick352
5. Der Kärntner Habitus und seine Haltung zur Kirche finden ihren Ausdruck in
den zentralen Erinnerungstraditionen des Landes Kärnten, wie sie im kulturellen
Gedächtnis gespeichert wurden. Auch hier muss die Zwischenkriegszeit als eine
Schlüsselphase der Identitätssuche gesehen werden. Neben der offiziellen Erinne-
rungspolitik, die sich in dieser Zeit vor allem auf den Kärntner Abwehrkampf und
die Volksabstimmung bezog, existieren auch inoffizielle Gedächtnisinhalte, wieder-
kehrende Anspielungen oder Überzeichnungen in Bildern und Texten, Sagen und
Legenden, in denen der Kärntner Habitus und mit ihm seine Geschichte mit der
katholischen Kirche gespeichert wurden.
6. Bis heute wirken die historischen Prozesse wie auch die gespeicherten Erinnerun-
gen nicht nur in der unterdurchschnittlichen kirchlichen Religiosität der Kärntner
Bevölkerung nach, sondern auch im politischen Wahlverhalten. So schaffte es die
katholische Kirche in Kärnten nicht im selben Ausmaß wie in anderen Teilen Öster-
reichs, das ländliche Milieu für das christlich-soziale Lager zu gewinnen. Vielmehr
tendierte der Bauernstand in der Ersten Republik großteils zum deutschnationalen
»Landbund«, später zum Nationalsozialismus und schließlich, in der Zweiten Re-
publik, je nach kulturellem und sozialem Hintergrund, entweder zum rechten Lager
oder – im Falle der ärmlicheren, aus dem »Keuschlertum« und Landproletariat oder
der ehemaligen Montanindustrie stammenden Bevölkerungsschichten – zum sozial-
demokratischen bzw. sozialistischen Lager. Unabhängig davon ist allerdings auch
die Nähe der traditionell ländlich geprägten Bevölkerungsteile des slowenischspra-
chigen Kärnten zur katholischen Kirche bis heute deutlich erkennbar. Schlussend-
lich existieren auch bis in die Gegenwart Zusammenhänge zwischen den Gebieten
Ober- und Nordkärntens, in denen Bauernaufstände, Geheimprotestantismus und
Nationalsozialismus den Kärntner Habitus besonders deutlich geprägt haben, und
der Wahlpräferenz für das politisch rechte und damit traditionell obrigkeitskritische
sowie tendenziell antiklerikale Lager.
7. Die Charakterisierung Kärntens als Sonderfall, wie sie bei Historikern und His-
torikerinnen, aber auch in der landläufigen Behauptung, Kärnten sei »anders«, be-
gegnet, lässt sich auch im Hinblick auf die Rolle der katholischen Kirche in Kärnten
bestätigen. Im Kontext der beschriebenen Entwicklungsprozesse zeigen sich tatsäch-
lich wirkmächtige Unterschiede zu anderen Regionen Österreichs. Im Blick auf den
gesamteuropäischen Zivilisationsprozess jedoch können in Kärnten die Dynamiken
der Säkularisierung als eines Entfremdungsprozesses von Kirche und Gesellschaft
vielmehr paradigmatisch analysiert und studiert werden. In diesem Sinne erscheint
Kärnten weniger als Sonderfall als vielmehr als »Paradefall«.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353