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Einleitung28
rungselite des rechten Lagers bildeten.61 Zugleich war das Buhlen um die Gunst der
deutschnational gesinnten Wähler und Wählerinnen, das teilweise eine großzügige
Integration von ehemaligen Nationalsozialisten zur Folge hatte, abschreckend für
katholisch gesinnte Wähler und Wählerinnen, darunter viele aus der slowenisch-
sprachigen Minderheit.62
Der in Kärnten stark ausgeprägte, antiklerikal gesinnte Deutschnationalismus
kann aber nicht als hinreichende Ursache für die empirisch festgestellte Kirchen-
skepsis dienen. Auch sozialgeschichtliche Faktoren müssen berücksichtigt werden.
Gerade im ländlichen Milieu hat sich die katholische Kirche mit ihrer Funktion der
Sozialdisziplinierung vor allem hinsichtlich ihrer sexualmoralischen Forderungen
schon früh von den konkreten Bedürfnissen und Problemen des Alltags entfernt.
Dies betrifft in erster Linie die Schicht der Dienstboten, der Knechte und Mägde,
die sozialgeschichtlich mit dem letzten von Hellwig Valentin erwähnten Sonderfall63
in Verbindung zu bringen sind : Kärntens traditionell überaus hohe Rate an unehe-
lichen Kindern ist nicht zuletzt mit dem hohen Anteil an Dienstboten zu erklären,64
der wiederum die agrarische Prägung des Bundeslandes widerspiegelt. Dienstboten
waren in ihrem Sexualverhalten besonders starken Reglementierungen ausgesetzt,
für sie galten nicht nur restriktive Ehegesetze, aufgrund ihres sehr geringen sozia-
len und ökonomischen Kapitals war eine reguläre Hausstandsgründung oftmals un-
denkbar. Die sexualmoralischen Forderungen des Klerus mussten in dieser Schicht
als besonders realitätsfern erscheinen. Hinsichtlich dieses Aspekts hat Franz Höl-
linger einen Zusammenhang zwischen dem Anteil unselbständig Beschäftigter am
Übergang von der agrarisch-vormodernen zur industriellen Gesellschaft, der Zahl
an unehelichen Geburten und der geringen Kirchenbindung im Sinne der regel-
mäßigen Gottesdienstteilnahme aufgezeigt. Alle drei Phänomene sind im südlichen
Österreich, und hier besonders in Kärnten und der Obersteiermark, stark ausgeprägt
(siehe Abb. 3).65
61 Die Führungsschicht des VdU der frühen 1950er Jahre bestand zu gut 50 % aus Bauern. Elste, A./
Hänisch, D.: Kontinuität (1998), 141.
62 Elste, A./Hänisch, D.: Kontinuität (1998), 141.
63 Valentin, H.: Der Sonderfall (2005), 16.
64 Eder, F. X.: Kultur der Begierde (2002), 40–44. Der Psychoanalytiker Erwin Ringel sah demgegenüber
in der hohen Anzahl an unehelichen Kindern den Willen der Kärntner und Kärntnerinnen, den Kin-
dern eine höhere Wertschätzung zukommen zu lassen, sie also nicht abzutreiben, weil »man sich hier
eben über gesellschaftliche Vorurteile hinwegsetzt und in einer mehr freiheitlichen Weise versucht,
sich dem Leben zu stellen.« Ringel, E.: Kärntner Seele (2000), 21. Das ist sicherlich ein wohlwollend
gemeintes Kompliment, hat aber m. E. nichts mit den realhistorischen Hintergründen der hohen Rate
an unehelichen Kindern zu tun.
65 Höllinger, F.: Volksreligion und Herrschaftskirche (1996), 173.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353