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33Theoretische
Vorüberlegungen
Pierre Bourdieu ihm zum Durchbruch verhalf.79 Die Stärke des Habitusbegriffs be-
steht in seiner Möglichkeit, die biologische, die psychische und die soziale Ebene
des Menschseins zusammenzudenken und damit andererseits auch die Makroebene
mit der Mikroebene in Beziehung zu setzen.80 Er erlaubt damit ein umfassendes
Bild dessen zu entwerfen, was gemeinhin unter der Bezeichnung »Seele« verstanden
wird. »Seelische« Empfindungen wie bspw. Angst, Lust, Aggression, Freude oder
Ärger werden, sozialpsychologisch gesehen, als primäre Emotionen verstanden, die
über sekundäre Emotionen wie Scham, Peinlichkeit und Stolz gesteuert und regu-
liert werden81 – im Habitus spiegelt sich das Ausmaß an sozial geformtem emotiona-
len Ausdruck, an ertragbarem Peinlichkeitsempfinden oder an öffentlich geduldeter
körperlicher Gewalt wider. Wenn also Erwin Ringel in Bezug auf die »Kärntner
Seele« davon gesprochen hat, dass die Kärntner »die Sizilianer Österreichs« seien,82
deutet das auf die Wahrnehmung eines – im Unterschied zu anderen Österreichern
und Öster reicherinnen – tendenziell freieren Umgangs mit Emotionen und damit
auf einen weniger gezügelten Affekthaushalt hin. Solche Unterschiede sind aber frei-
lich eher graduell, zumal die Beschaffenheit des gemeinsamen »Mutterbodens«, den
Elias im obigen Zitat als Bild für seine Erklärung des Habitus gebraucht, für Öster-
reich im Sinne einer Nationalgesellschaft ähnlich ist. Dennoch gibt es gute Gründe
für die Behauptung, dass – um im Bild zu bleiben – die Kärntner Bodenbeschaffen-
heit eine besondere Zusammensetzung kennzeichnet und es daher auch zulässig ist,
parallel zur »Kärntner Seele« auch von einem Kärntner Habitus zu sprechen.
Das Bild vom »Mutterboden« hat im Kontext dieses Buches Vor- und Nachteile.
Es lässt sich zunächst auf die territoriale Begrenzung dessen, was hier als »Kärnten«
bezeichnet wird, beziehen. Der Kärntner Mutterboden läge demnach also im Bun-
desland Kärnten innerhalb seiner gegenwärtigen Grenzen. Nun waren aber, und das
ist der Nachteil dieses Bildes, die Grenzen Kärntens über die Jahrhunderte nicht
einheitlich und haben lange Zeit ein größeres Territorium umfasst als heute. Mehr
noch : Wenn von der gesellschaftlichen Position der katholischen Kirche in Kärnten
die Rede sein soll, begegnen wir mit dieser territorialen Eingrenzung dem Problem,
79 Bourdieu begreift den Habitus ähnlich wie Elias als »inkorporierte Geschichte« bzw. als die »Präsenz
der Vergangenheit in der Gegenwart«. Der Körper als Speicher sozialer Erfahrung ist dabei nicht
passiver Speicher, sondern generiert unentwegt »gesellschaftliche Praxis«. Krais, B./Gebauer, G.: Ha-
bitus (2010), 22 und 34.
80 Die »Selbstzwangapparatur«, wie Elias sie nennt, wird biologisch gesehen in hohem Maße von der Or-
bitalrinde (oder orbifrontaler Kortex) des menschlichen Großhirns gesteuert – sie ist gewissermaßen
die Schnittstelle zwischen biologischer Veranlagung und psychosozialer Formung und ähnelt dem, was
Freud als »Über-Ich« bezeichnet hat. Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014), 34–36.
81 Ebd.
82 Ringel, E.: Kärntner Seele (2000), 20 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353