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41Theoretische
Vorüberlegungen
infrage gestellt, kann das als gefährliche Bedrohung der Wir-Identität wahrgenom-
men und zu entsprechenden Sanktionen gegenüber den an historischen Fakten Inte-
ressierten führen. An solchen Beispielen zeigt sich die grundsätzliche Differenz des
kollektiven Gedächtnisses zur Faktengeschichte.
Faktengeschichte bzw. das »historische Gedächtnis« hat keine identitätsbildende
Absicht oder Funktion. Sie interessiert sich für den Wandel, das kollektive Gedächt-
nis stellt hingegen die Kontinuität in den Vordergrund und blendet den Wandel aus.
Während das kollektive Gedächtnis gruppenbezogen, selektiv, wertgebunden und
zukunftsorientiert ist, ist das historische Gedächtnis von seinen Trägermedien losge-
löst. Es muss alles unselektiv als gleich wichtig erachten, ist also bedeutungsneutral
und sucht nach der »wahren« Geschichte jenseits von Normen und Werten. Beide
verhalten sich zueinander nicht ausschließend und gegensätzlich, es handelt sich eher
um zwei Modi des Gedächtnisses, Letzteres bildet dabei eher den Hintergrund für
Ersteres.116
Das kollektive Gedächtnis kann nun wiederum unterteilt werden in das kommu-
nikative und in das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist alltags-
bezogen und konstituiert sich, wie der Begriff nahelegt, in der Kommunikation des
Individuums mit anderen. Es konstruiert ein Wir-Bild auf der Grundlage einer ge-
meinsamen Vergangenheit, etwa im Gespräch des Großvaters mit dem Enkelkind,
aber auch im Gespräch von bspw. Berufskolleginnen.117 Ausgehend von den ethno-
graphischen Untersuchungen Jan Vansinas zeigt sich, dass die Erinnerungstraditi-
onen in allen Kulturen einem ähnlichen zeitlichen Muster folgen : So erinnern die
Zeitzeugen Ereignisse, die ca. 80 bis 100 Jahre zurückliegen, was den biblischen drei
bis vier Generationen entspricht.118
Was weiter zurückliegt, wird Gegenstand einer »absoluten Vergangenheit« und
damit Teil des kulturellen Gedächtnisses. Es ist dann nicht mehr »natürlich« gewach-
senes Gedächtnis, sondern bedarf der Pflege, die von eigenen Trägerschaften bereit-
gestellt wird, also Dichtern, Priestern oder, in Kärnten, Vereinen und politischen
Akteuren. Was in das kulturelle Gedächtnis übergeht, ist also künstlich erhaltene
Erinnerung, solange sie einer sozialen Gruppe bzw. Figuration als identitätsstiftend
gilt. Das kulturelle Gedächtnis wird nicht im Alltag aktiviert, sein Zeithorizont wan-
dert nicht mit, sondern bezieht sich auf Fixpunkte, auf »schicksalhafte Ereignisse der
Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denk-
rung im Kontext des Abwehrkampfes als »Dolchstoßlegende vom ›Wiener Verrat an der Kärntner
Seele‹ und von der ›Renner-Grenze‹«. Anderwald, K.: Kärnten und Wien (2000), 281.
116 Assmann, A.: Erinnerungsräume (2006), 131–134.
117 Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis (1988), 10 f.
118 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis (1992), 48–56.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353