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71Missionierung
und Christianisierung
Zwischen den Zeilen drängt sich förmlich die pädagogische Absicht Santoninos auf,
angesichts der sicherlich überzeichneten Frömmigkeit der »Barbaren« seinen Lands-
leuten religiösen Anstand anzumahnen. Santonino schrieb seine Reisetagebücher
schließlich nicht für die Patriarchatskanzlei, sondern für die Öffentlichkeit.63 Die
Landeshistorikerin Claudia Fräss-Ehrfeld gibt zu bedenken : »Ob das Volk damals tat-
sächlich tief fromm empfand, oder ob die Religiosität sinnentleert war, erstarrte Form
mit fließenden Übergängen zwischen Glauben und Aberglauben, bleibt unklar.«64
Versucht man nun, diese frühen politischen, kirchlichen und religionssoziolo-
gischen Entwicklungslinien des Landes zu überblicken, kristallisieren sich bereits
einige habitusformende Elemente heraus. Ihnen zugrunde liegt ein komplexes
Geflecht an kirchlichen Besitz- und Herrschaftsverhältnissen, das gegen Ende des
15. Jahrhunderts entstanden war. Die starke territoriale Zersplitterung des Landes
brachte ein stetiges Ringen der weltlichen und geistlichen Herrschaften um die Kon-
solidierung ihres Besitzes mit sich. Häufig wurden diesbezügliche militärische Aus-
einandersetzungen auf dem Rücken der Untertanen ausgetragen, die von geistlichen
Herrschaften kaum größere Barmherzigkeit als von weltlichen zu erwarten hatten.
Überdies litt die Qualität in der Rechtsprechung und Verwaltung unter der kompli-
zierten und damit unsicheren Rechtslage. Was nun aber den kirchlichen Seelsorge-
bereich betrifft, generierten die bestehenden Besitzkonstellationen erhebliche struk-
turelle Mängel. Die weltlichen Grundbesitzungen der Bistümer deckten sich ja nicht
durchgehend mit den pastoralen Zuständigkeiten. Die kirchlichen Besitzungen im
Land gehörten extraterritorialen – »ausländischen« – Herrschaften, die Machtzent-
ren der jeweiligen Bistümer lagen weit entfernt. Die topographischen Extremlagen
des Landes erschwerten außerdem die ordnungsgemäße Durchführung entspre-
chender Visitationen, aber auch die seelsorgliche Praxis der jeweiligen Pfarrer.
Aber nicht nur die Kärntner Naturgegebenheiten hatten Einfluss auf die relative
Distanz von Kirche und Kirchenvolk. Vielfach wurden die Pfarrer selbst von den
Bauern als Herrschaften angesehen, als Abgabeneintreiber. Ein doppelmoralischer
Lebenswandel und ein niedriger Bildungsstand des Klerus prägten die Wahrneh-
mung der Kirche und ihrer Vertreter am Vorabend der Reformation. Ein drängen-
des Problem etwa war die Vernachlässigung der seelsorglichen Pflichten durch hohe
Geistliche. »Oft bekam das Kirchenvolk den mit den Pfründen ausgestatteten Pfar-
rer gar nicht zu Gesicht, weil dieser zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes meh-
rere Pfründe [sic !] annahm und sich von einem anderen Pfarrer (Vikar) vertreten
ließ, dessen Qualität und Ausbildung manchmal mehr als zweifelhaft war.«65
63 Ebd., 7.
64 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 644.
65 Zeloth, T.: Gesellschaft Kärntens (2011), 41.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353