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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten72
Während die schlecht ausgebildeten Gesellpriester, die die Gottesdienst- und
Seelsorgepflichten wahrnahmen, auch schlecht verdienten, konnten Pfarrer mit rei-
chen Pfründen hingegen einen Lebensstandard erreichen, der mit denen von nie-
deren Adeligen vergleichbar war. Für die Erlangung eines solchen, mit Pfründen
ausgestatteten Amtes stand die geistliche Qualifikation häufig nicht im Vordergrund,
vielmehr waren entsprechend verwandtschaftliche Beziehungen oder finanzielle
Mittel ausschlaggebend. Auch wenn geistliche Berufe grundsätzlich allen offen stan-
den, waren sie doch de facto mit Personen adeliger Herkunft bekleidet – außer in
den ärmeren Landpfarren, wo auch der personale Konkurrenzdruck nicht so hoch
war. Dort gab es eine große Zahl von armen Landpfarrern und Kaplänen, deren Le-
bensumstände sehr bescheiden sein mussten. Dieses »geistliche Proletariat« zählte
zu den vom alten System Kirche Ausgebeuteten und wurde zu einer wesentlichen
Trägerschicht der Reformation.66
Auch bei den Ordensgemeinschaften waren Missstände zu beklagen. Das traf auf
die Nonnenklöster ebenso zu wie auf die Männerorden. Wirtschaftliche Interessen
standen häufig über den geistlichen, Armutsgelöbnisse wurden kaum ernst genom-
men und die Askese vernachlässigt. Ein laxer Umgang mit der Klosterdisziplin und
geringe Bildung von den einfachen Brüdern bis hin zu den Äbten, die selbst in eini-
gen Fällen Frauen hatten, brachten die Klöster in der Bevölkerung in Verruf. Der ra-
pide Rückgang der Ordensbrüder und -schwestern im 16. Jahrhundert wurde durch
die Reformation verstärkt, einige Mönche versuchten als protestantische Prädikan-
ten bei gleichgesinnten Adeligen unterzukommen. Die Schrumpfung der Klöster ist
auf die Sympathie ihrer sozialen Trägerschicht – Adel und Bürgertum – für den Pro-
testantismus zurückzuführen. Eine Ausnahme bildete das Zisterzienserkloster Vik-
tring, das durch geschickte Führung die großen Krisen einigermaßen unbeschadet
überstehen konnte – wenngleich auch hier Konkubinen mit ihren Kindern hinter
den Klostermauern lebten.67
Interessanterweise war gerade die Zeit großer kirchlicher Missstände am Vor-
abend der Reformation auch eine äußerliche »Blütezeit« der Gurker Kirche. Das
Bauwesen florierte ebenso wie das Wallfahrtswesen und die Teilnahme der Gläubi-
gen am kirchlichen Leben. Die Gurker Domschule und das Spital, das Anfang des
16. Jahrhunderts in Gurk erneuert wurde, waren allerdings dem Adel vorbehalten.
Damit ist aber bereits angedeutet, dass diese Initiativen nicht unwesentlich auf Kos-
ten der einfachen Landbevölkerung gingen. Ablässe, bei denen die Gläubigen den
Lebensunterhalt einer ganzen Woche opfern mussten, dienten der Kirche als beson-
ders ertragreiche Einnahmequellen. Die Beseitigung der Missstände innerhalb des
66 Ebd., 41 f.; Fräss-Ehrfeld, C.: Die ständische Epoche (1994), 93.
67 Ebd., 280–283.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353