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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten74
ritorien resultierte das »Cuius-regio-eius-religio«-Prinzip, was in Kärnten infolge
seiner topographische Randlage und des fehlenden Durchsetzungsvermögens der
Zentralmacht deutliche Folgewirkungen für die »Formierung einer neuzeitlich dis-
ziplinierten Untertanengesellschaft«72 hatte. Staatliche Maßnahmen der Sozialdiszi-
plinierung73 und kirchliche »Sündenzucht«74 gingen dabei Hand in Hand. Der Staat
erließ eine Vielzahl an Mandaten und »Policeyordnungen«, adaptierte kirchlich er-
probte und praktizierte Formen der »Visitation«75, die Kirchen ihrerseits bauten die
Glaubenspropaganda aus – im Katholizismus durch Theater, Prozessionen, Wall-
fahrten mit ihren Spielarten von Reliquien- und Heiligenkult, die Sinnespracht der
Barockkunst ; in beiden Konfessionen durch die Diffamierung der jeweils anderen
über Zensur und Indizierung, weiters über den Versuch, den Hass gegen die jeweils
anderen zu schüren, darüber hinaus aber auch über den Ausbau des Bildungswe-
sens wie der Jesuitenkollegien und Priesterseminare und damit die Etablierung von
Multipli katoren. Kommunikantenlisten, Tauf-, Eheschließungs- und Bestattungsbü-
cher, sogar die Namensgebung war konfessionalisiert.76 Alles überragend ist aber die
Bedeutung der Beichte, sei es als Generalbeichte oder durch die Spezifizierung der
Sünde im Beichtgespräch.77
Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung dürfen aber nicht nur als »Top-
down- Prozess« verstanden werden, sondern funktionierten auch im Sinne einer
»Selbstregulierung der Untertanen«78. Für Kärnten wird diesbezüglich zu zeigen
sein, inwiefern die staatlichen und kirchlichen Repressionsmaßnahmen im Zeitalter
des konfessionellen Absolutismus mit der Verfolgung von »Geheimprotestanten«
das Denunziationsverhalten der Untertanen unterstützte und das Sprechen über das
72 Ebd., 192–198, hier 198.
73 Der Begriff der Sozialdisziplinierung wurde durch die Arbeiten des deutschen Historikers Gerhard
Oestreich entscheidend geprägt. Sozialdisziplinierung »zielt zunächst auf Änderung des moralischen
Bewußtseins und des sittlichen Verhaltens.« Schulze, W.: Oestreichs Begriff (1987), 266. Dies kann
bereits an verwaltungstechnischen Neuerungen abgelesen werden, indem die Untertanen in Tauf-,
Ehe- und Sterbematrikeln registriert oder die Beicht- und Bußzucht ebenso wie die unehelichen Ge-
burten behördlich aufgezeichnet wurden. Schilling, H.: Nationale Identität (1991), 241 f.
74 Der ursprünglich für den protestantischen Bereich verwendete Begriff »Kirchenzucht« kann ohne
weiters auch auf den nachtridentinischen Katholizismus angewendet werden. Konfessionelle Eigen-
tümlichkeiten werden in der einschlägigen Forschung als deutlich weniger relevant eingeschätzt als
die jeweiligen politischen Umstände. Reinhard, W.: Zwang (1983), 260 f.
75 Schulze, W.: Oestreichs Begriff (1987), 284.
76 Während man etwa im protestantischen Bereich von den populären Heiligennamen zu alttestamen-
tarischen Namen zurückkehrte, ließ man im Gegensatz dazu katholischerseits 1566 die Wahl von
Heiligennamen zur Taufe gesetzlich festschreiben. Reinhard, W.: Zwang (1983), 260 f.
77 Schilling, H.: Die Kirchenzucht (1994), 36–39.
78 Schilling, H.: Disziplinierung (1997), 675. Vgl. dazu Schmidt, H. R.: Sozialdisziplinierung ? (1997)
und Scheutz, M.: Konfessionalisierung (2009).
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353