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97Das
Konfessionelle Zeitalter
gewissem Maße vorhandene Mobilität der Untertanen. Saisonarbeiter aus Deutsch-
land oder professionelle Bücherschmuggler brachten entsprechendes Gedankengut
aus dem süddeutschen Raum.191 Für den Beginn des 18. Jahrhunderts werden für
Kärnten ca. 20.000 »geheime« Protestanten geschätzt.192
Bemerkenswert ist, dass für die Untertanen selbst das Nebeneinander von katholi-
scher und evangelischer Konfession zunächst keine großen Konflikte erzeugt haben
dürfte, da man kaum Fälle von Denunziation kennt. »Insgesamt ist eine beachtliche
Durchlässigkeit der konfessionellen Grenzen festzustellen.«193
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrten sich jedoch die Anzeigen gegen
Geheimprotestanten und Bücherschmuggler. Festnahmen führten häufig aber wie-
der nur zu Scheinbekehrungen und Freilassungen. Für eine konsequentere Strafver-
folgung griff man nun auf einen neuen, gegenreformatorisch geschulten Klerikertyp
zurück, der die Duldung der »Zustände«, wie sie von so manchen alten Pfarrern
stillschweigend gewährleistet wurde, nicht mehr akzeptierte. Die Überwachungs-
funktion des Pfarrers wurde weiter ausgebaut, er musste nun nicht nur Dekrete des
Kaisers und der Regierung von der Kanzel verkünden, sondern auch protokollarisch
mit einem Seelenstandsregister über das religiöse Leben der Untertanen Buch hal-
ten und diese, vor allem Dienstboten, mitunter auch befragen. Bei Widersetzung
konnte der Pfarrer entsprechende weltliche Hilfe in Anspruch nehmen, was in der
Praxis jedoch aufgrund des schon angesprochenen Unwillens der lokalen Beamten
kaum durchführbar war.194
Es kam also notgedrungen zu einer nachhaltigen Frontstellung von protestantisch
gesinnten Untertanen und kirchlich-staatlicher Obrigkeit. Kerkerstrafen und De-
mütigungen während der Messe, in der Untertanen mit gebeugten Knien und unter
Rutenschlägen öffentlich Buße leisten mussten, änderten wenig. Die Folgewirkun-
gen waren gegenteilig, die neuen Bespitzelungsmaßnahmen erzeugten noch stärke-
ren inneren Widerstand. Im Kontext dessen wurden sogar Anleitungen verbreitet,
wie man nach außen hin eine oberflächliche Katholizität vorgaukeln sollte.195
geht auf eine Einschätzung der zeitgenössischen Behörden des 18. Jahrhunderts selbst zurück. Heute
muss dies größtenteils relativiert bzw. sogar als Mythos zurückgewiesen werden. »Sehr oft lebten die
Geheimprotestanten mitten im Tal und an internationalen Verbindungsstraßen«. Leeb, R.: Geheim-
protestantismus (2000), 249. Stephan Steiner hat dies etwa für die von ihm untersuchte Herrschaft
Paternion festgestellt : »Alle aufsässigen Ortschaften in der Herrschaft Paternion liegen nämlich in
der Ebene, an einer Hauptverkehrsroute, allesamt sind sie leicht zugänglich, allesamt bilden sie ge-
schlossene Siedlungen.« Steiner, S.: Auf und davon (2007), 205.
191 Leeb, R.: Geheimprotestantismus (2000), 249 f, hier 250.
192 Tropper, C.: Der Geheimprotestantismus (2011), 308 f.
193 Ebd., 310.
194 Ebd., 298–305.
195 Eine Anweisung zur Wahrung des katholischen Scheins ist für Oberösterreich aus dem Jahr 1756
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353