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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten112
Tatsächlich wies die Machtbalance zwischen deutsch- und slowenischsprachigen
Bevölkerungsteilen ein deutliches Gefälle auf. Einerseits betraf dies die bereits ange-
sprochenen bäuerlichen Besitzverhältnisse, die dazu führten, dass sich in Ober- und
Nordkärnten ein selbstbewusster Bauernstand etablieren konnte, dessen Habitus im
Zuge des Konfessionellen Zeitalters und zum Teil auch nach den Erfahrungen mit
dem napoleonischen Gesellschaftskonzept durch eine widerständige Untertanen-
mentalität gekennzeichnet war und wesentlich zum deutschnationalen Gedankengut
tendierte, während die sozioökonomisch deutlich schlechter gestellten slowenisch-
sprachigen Bevölkerungsteile in Südkärnten zu katholisch-konservativen Werthal-
tungen tendierten. Andererseits blieb Kärnten im Kontext der Industrialisierung
infolge des mangelnden Steinkohlevorkommens stark agrarisch geprägt, was ein
verhältnismäßig geringes Wachstum der Städte zur Folge hatte und damit die Aus-
bildung einer breiten Schicht von bürgerlichen Eliten verhinderte. Darüber hinaus
führte der Mangel an Almen im Südkärntner Raum zu einer starken Saisonwande-
rung, v.a. der Dienstbotenschicht, in die nördlichen Landesteile. Nicht nur hier, son-
dern auch in der Frächterei und Pferdezucht, wie sie im Gailtal weit verbreitet war,
erwiesen sich Kenntnisse des Deutschen bald als Vorteil. Die in solchen sozioöko-
nomischen Umständen grundgelegte »Germanisierung« bzw. »Assimilation« von
slowenischsprachigen Kärntnern und Kärntnerinnen, die auch sozialen Aufstieg ver-
sprach, hatte sich also in einer Herrscher- und Untertanendualität niedergeschlagen,
die vom nun entstehenden slowenischen Nationalismus problematisiert wurde.267
Ausgehend von dem Bild der Inferiorität entwickelte sich ein slowenisches Natio-
nalbewusstsein, das die Unterdrückung durch »die Deutschen« zum schicksalhaften
Mythos268 stilisierte und die Befreiung aus dieser Schieflage zum Gebot der Stunde
machte. Zum zentralen Element nationaler Mobilisierung wurde die Sprache.
An der Förderung der slowenischen Sprache im Kontext der beginnenden Nati-
onalisierung hatten kirchliche Kreise in Kärnten erheblichen Anteil. So war es der
Jesuitenorden, der dem Parhamer-Katechismus eine slowenische Kurzanleitung bei-
fügte, die zu den ersten gedruckten slowenischsprachigen Texten in Kärnten zählt.
Nachdem 1806 der katholischen Kirche die Schulverwaltung und Schulaufsicht
Nationaldichter, hat diese Zuschreibung in folgende Verse verpackt : »Deutsch sprechen in der Regel
hier zu Lande/die Herrinnen und Herren, die befehlen,/slowenisch die, so von dem Dienerstande«.
France Prešeren, zit. ebd., 320, abgedruckt auch bei Till, J.: Bildung und Emanzipation (2012), 81.
267 Perchinig, B.: Wir sind Kärntner (1989), 16–20.
268 Bereits die Karantanen seien – in Anspielung auf die Boruth-Episode – ihrer Fürsten beraubt und ger-
manisiert worden, danach sei man vom angestammten Territorium mit seinem historischen Zentrum,
dem Zollfeld, systematisch verdrängt und in Untertanen- und Leibeigenschaft gezwungen worden.
Damit wurden die auch faktisch vorhandenen ökonomischen Herrschaftsverhältnisse in Südkärn-
ten und in Krain geschichtsideologisch gedeutet. Moritsch, A.: Nationale Differenzierungsprozesse
(2002), 321 f.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353