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Kirche und Habitus im »Christlichen
Ständestaat«134
resultierte schließlich aus dem Zusammenfallen politischer und wirtschaftlicher Kri-
senerfahrungen. Nachdem die Weltwirtschaftskrise die größte österreichische Bank,
die Creditanstalt, in die Zahlungsunfähigkeit getrieben hatte, führte dies zu einer
äußerst instabilen politischen Situation mit permanent wechselnden Regierungskoa-
litionen und dem Wunsch nach Veränderung. Die Regierung Dollfuß leitete diesen
Veränderungsprozess im Sinne eines autoritären Regimes ein – Opposition und Ar-
beiterbewegung wurden zerschlagen und die faschistischen Systeme in Italien und
Deutschland zum Vorbild genommen. Anders als dort war es in Österreich allerdings
keine eigenständige faschistische Partei, die diesen Schritt unternahm, sondern die
bestehende Regierung im Verbund mit Vertretern der Christlichsozialen Partei, den
Heimwehren und dem Landbund. Die entsprechende außenpolitische Rückende-
ckung holte man sich im faschistischen Italien Mussolinis.26
Der häufig verwendete Begriff »Austrofaschismus« für diese Epoche österreichi-
scher Zeitgeschichte muss ebenso vorsichtig und reflektiert verwendet werden wie
jener des »Klerikalfaschismus«. Letzterer sei, so der Historiker Ernst Hanisch, »ein
politischer Kampfbegriff, aber kein theoretisch reflektierter ›Typus‹.«27 Hanisch ar-
gumentiert, dass die Kirche zwar als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«
von diesem System profitiert habe und es damit auch offiziell unterstützt habe, dass
sie zugleich aber auch ein gewisser »Sperriegel gegen den vollfaschistischen Charak-
ter des Regimes«28 war. »Die Katholische Kirche als Bündnispartner des Regimes
bildete gleichzeitig eine gewisse Barriere gegen den Vollfaschismus.«29 Faschisti-
sche Systeme hätten eine modernisierende, antikonservative Stoßrichtung, die eben
durch den verklärten Rückgriff des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes auf das traditio-
nal-religiöse Gesellschaftssystem nicht vorhanden gewesen sei.30
Sehr wohl aber versuchte man, in der Ablehnung von Liberalismus, Marxismus und
Bolschewismus den Faschismus zu imitieren. Die Etablierungsversuche eines »starken
Staats«, die Förderung paramilitärischer Bewegungen, die ästhetischen Codes von Mas-
senveranstaltungen und Jugendlichkeit und nicht zuletzt die Inszenierung eines Führer-
kults weisen als faschistische Elemente ebenso in diese Richtung. Bundeskanzler Doll-
fuß war der Meinung, dass man der nationalsozialistischen Propaganda nur dann den
Wind aus den Segeln nehmen könne, wenn man sie mit ihren eigenen Waffen schlage,
also die Verheißungen des Nationalsozialismus selbst in Erfüllung treten lasse.31
26 Tálos, E.: Das Herrschaftssystem (1988), 357 f.
27 Hanisch, E.: Der Politische Katholizismus (1988), 53.
28 Ebd.
29 Ebd., 54.
30 Ebd.; Hanisch, E.: Der lange Schatten (1994), 310–315 ; vgl. dazu auch Hanisch, E.: »Christlicher
Ständestaat« (2007), wo Hanisch auf den Diskurs der Zeitgeschichtsforschung zu dieser begrifflichen
Differenzierung eingeht.
31 Hanisch, E.: Der Politische Katholizismus (1988), 53 f.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353