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219Zwischenresümee
handelnden Personen, im vorliegenden Fall allen voran zwischen den kirchlichen
Amtsträgern und der Kärntner Bevölkerung, außer Acht lässt. Sehr viele der ausge-
werteten Berichte geben einen atmosphärischen Eindruck von der Stimmungslage
jener kurzen Epoche und den emotionalen Untiefen der Beziehungen, die nicht zu-
letzt aus der persönlichen Involvierung der Kleriker selbst verstehbar werden. Be-
reits mehrmals wurde die These ausformuliert, dass die vorliegenden Konflikt- und
Beziehungsdynamiken nicht allein aus dem damaligen Zeitgeist heraus erklärbar sind,
sondern auf der im ersten Teil erläuterten Habitusentwicklung, also der Sozio- und
Psychogenese der Kärntner Bevölkerung beruhen. Auf Grundlage der manchmal of-
fenkundigen, manchmal zwischen den Zeilen der Klerikerberichte herauszulesenden
Spannungen kristallisieren sich, gleichsam im Sinne eines mikroskopischen Detail-
blicks auf eine ausgewählte Epoche, zentrale Dimensionen dieses Entwicklungspro-
zesses heraus.
Zunächst geben die Berichte Aufschluss über den Umgang mit Autorität, sowohl
der von der Bevölkerung wahrgenommenen als auch der faktisch durch die Insti-
tution Kirche und ihre Vertreter ausgeübten. Zum einen fühlen sich viele Kleriker
in ihrer Funktion geringgeschätzt, sind Schmähungen der Bevölkerung ausgesetzt
und hadern mit dem Statusverlust ihres Amtes. Zum anderen üben die Kirche und
ihre Vertreter selbst Autorität in einer Weise aus, die sich mühelos mit den Prak-
tiken im konfessionellen Absolutismus vergleichen lassen : Bereits der am Beginn
der Berichtspflicht stehende Geheimerlass bedient sich des Mittels der Denunzia-
tion, wenn »die Hochwürdigen Herren« aufgefordert werden, das Ordinariat »auch
über Persönlichkeiten, die Schwierigkeiten bereiten, auf[zu]klären.« Dabei musste
den Klerikern die vorgesetzte Stelle selbst unglaubwürdig erscheinen : Werden die
Priester wenige Sätze davor noch mit scharfem Ton zur politischen Neutralität und
Distanzierung gemahnt, stellt das Ordinariat selbst unverholen politische Interven-
tion in Aussicht, insofern »unter Umständen dem Fb. Ordinariate die Möglichkeit
geboten [ist], da und dort Einfluss zu nehmen«397.
In Kohärenz dazu hat sich auch im kirchlichen Milieu die Praxis des An-den-Pran-
ger-Stellens, wohl die unmittelbarste Form der öffentlichen Beschämung, bis in diese
Zeit (und wohl auch noch darüber hinaus) erhalten, wie es am Beispiel des Spittaler
Dechants zu sehen war, der die Namen von Ausgetretenen in der Pfarrkirche an-
schlug, oder wie es der Fall jenes Klerikers zeigte, der von der Kanzel herab seine
»Schäfchen« namentlich beschimpft haben soll. Die Geringschätzung der eigenen
Pfarrbevölkerung durch die Geistlichen, die aus vielen weiteren Berichten mit Kla-
gen über deren »Glaubenslosigkeit«, »Glaubenslauheit« oder religiöse »Gleichgül-
tigkeit« zum Ausdruck gebracht wurde, zeigt unter Umständen auch, wie sehr hier
affektiv-emotionale Befindlichkeiten und Kränkungen einer wirklichkeitskongruen-
397 Fb. Gurker Ordinariat : Geheimerlass (10.07.1933).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353