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241Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Während der Nachfolgeroman Der Märtyrer und Lilotte (1934), der die Katholi-
ken verfolgungen in Mexiko in den 1920er Jahren thematisiert, kaum Beachtung
fand, sollte Hemma von Gurk zu Viesèrs Hauptwerk werden.86
Hemma von Gurk ist sowohl im Entstehungskontext als auch hinsichtlich seiner
inhaltlichen Botschaften untrennbar mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des
Ständestaates verbunden. Ihr stark vom Katholizismus und von intensiver Frömmig-
keit geprägtes Werk87 ließ sie in den Augen der kirchlichen Führungspersönlichkei-
ten der 1930er Jahre als christliche Alternative zur antiklerikalen Grundhaltung in
der Gesellschaft erscheinen.88 Es handelt sich zwar nicht um ein Auftragswerk im
engeren Sinne, freilich hat seine Entstehung aber unmittelbar mit dem politischen
Umfeld und dem angestrebten Heiligsprechungsprozess zu tun.89 Die Autorin sagte
dazu selbst in einer in der Zeitschrift Carinthia I abgedruckten90 Tonbandaufzeich-
nung 1994 :
Die Hemma von Gurk ist mir eigentlich nicht von selbst gekommen. Und zwar war damals
der Heiligsprechungsprozess der heiligen Hemma aktuell und da ist der Generalrelator der
päpstlichen Archive, also ein Historiker von hohem Rang, nach Kärnten geschickt worden,
um diesen Heiligsprechungsprozess historisch zu begründen, zu untermauern.91
Bei diesem Historiker muss es sich um den bereits genannten Pater Josef Löw ge-
handelt haben.92
[E]ines Tages ist er zu mir gekommen […] und er hat mich ein bisschen interviewen wollen,
über die heilige Hemma, weil er gedacht hat, ich hab mich mit der Kärntner Geschichte
beschäftigt und ich muss etwas wissen – und da musste ich ihn sehr enttäuschen. […] 14
Tage später ist er wieder gekommen und hat mir einen Pergamentbogen, einen zusam-
mengeklebten, vorgelegt – mit dem Stammbaum der Hemma und die Beziehungen zu den
damaligen Geschlechtern, also bis zu Karl dem Großen zurück. Die Dietrichsteiner, die
86 Abret, H.: Regionalgeschichte (2010), 633 f.
87 Schuh, E.: Dolores Viesèr (2003), 690 ; Brandstetter, A.: Dolores Viesèr (2010), 628. Ihre katholische
Sozialisation verband sie vor allem mit ihrer Mutter und festigte sich in positiven biographischen Er-
fahrungen, die sie mit der Kirche machte. Auf dieser Grundlage entwickelte sie eine tiefe Spiritualität,
die in ihren Büchern zum Vorschein kommt. »Nicht ich schrieb, es hat in mir geschrieben – Gott war es«,
gab sie in einem Tonbandinterview, zit. in Müller, W.: Dolores Viesèr (2010), 623 zu Protokoll. H. i. O.
88 Abret, H.: Alternative (2006) ; vgl. dazu auch den Festvortrag anlässlich des 100. Geburtstags Viesèrs
2004 in Klagenfurt, Abret, H.: Aktualität (2004).
89 Abret, H.: Regionalgeschichte (2010), 635.
90 Der Abdruck findet sich im Anhang zu Müller, W.: Dolores Viesèr (2010) auf den Seiten 628–630.
91 Dolores Viesèr, zit. in ebd., 630.
92 Rumpler, H.: Die Heiligerklärung (1988), 203 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353