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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis278
stand, der den Jesuiten längst ein Dorn im Auge war, und sie veranlaßten den Vizedom zu
allerlei Eingriffen in die Rechte der Protestanten.243
Damit nicht genug, schildert die Erzählung erfolgreiche Interventionen der Jesuiten,
um die Einigkeit im Volk mit Zwietracht zu zersetzen :
Da geschah es, daß eines Tages der im protestantischen Friedhof zu Bayerhofen stattfin-
denden Predigt ein Pater des Grazer Jesuitenkollegiums zuhörte. In seiner Begleitung
befanden sich der katholische Stadtpfarrer Josef Hamer und der katholische Kanzler des
bambergischen Vizedomamtes Andreas Junker.
Nach Beendigung der Predigt sprach Pater Sigismund den Prädikanten an wegen eines
Zitats aus Augustinus, das nicht an der richtigen Stelle angebracht worden sei. Er sprach
so laut, daß es auch die Umstehenden hören konnten, und er bat das Volk, ihm das nicht
zu verübeln.
Noch ehe der überraschte Prädikant ein Wort der Erwiderung fand, bot ihm der Jesuit
in der freundlichsten Weise die Hand und wünschte ihm eine gute Nacht.
In der dichtgedrängten Zuhörerschaft entstand eine große Unruhe, die in den vorders-
ten Reihen Stehenden empfanden die Einmischung als eine Provokation von seiten des
Jesuiten und machten in ihrer Empörung ausfällige Äußerungen über denselben, welche
sich nach rückwärts fortpflanzten und bei denen, die den Vorgang nicht sehen konnten, die
Vermutung entstehen ließen, der Prädikant sei tätlich angegriffen worden.
Die Aufregung der ohnehin sehr gereizten Menge steigerte sich, der Schuster Schoß-
peck rief dem in der hintersten Reihe stehenden Magister Kaspar Ehremer zu, der Pater
und der Kanzler seien mit Dolchen auf den Prädikanten losgegangen und dieser habe sich
mit knapper Not flüchten können.244
Als der aufgebrachte Ratsbürger Ehremer die katholischen Herren zur Rede stellt,
beteuern diese ihre Unschuld. »Ehremer ließ sich beruhigen und veranlaßte die
Menge, heimzugehen. Anderntags jedoch wurde er verhaftet, im Schloß gefangen-
gesetzt und zu tausend Dukaten Strafe verurteilt.«245
Der aufgebrachte Mob, wie ihn Emilie Zenneck hier beschreibt, lässt sich mühe-
los in die Erzählzeit der frühen 1930er Jahre transferieren, in der die gesellschaftli-
che Lagerbildung bereits zugespitzt war und auch auf der Straße konfrontativ ausge-
tragen wurde. Und so ist es in Zennecks Roman in weiterer Folge auch das »einfache
Volk«, das sich zuerst von den »geistlichen Zwietrachtsäern« verunsichern und zum
Denunziantentum verführen lässt. Die Verführten sind, so der Subtext des Romans,
243 Ebd., 203.
244 Ebd., 204.
245 Ebd.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353