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Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
nicht vom »echten« evangelischen Geist beseelt, der die bürgerliche Oberschicht,
wie sie von den Zeneggischen repräsentiert wird, geistig und geistlich tiefer durch-
drungen hat. Ihre Auswanderung wird dem Land einen erheblichen sozioökonomi-
schen Aderlass bescheren.
In den unteren Volks- und Handwerkerkreisen hatten die Übertritte zum Katholizismus
mehr und mehr überhand genommen, und die Klassengegensätze zwischen arm und reich
nahmen immer schärfere Formen an. Man verübelte den Gewerken und Großkaufleuten
ihre Standhaftigkeit und beneidete sie um ihre Landsitze, und die geistlichen Kommissäre
benützten diese Unzufriedenheit für ihre Zwecke, lobten und belohnten jede die Evange-
lischen oder die Augsburger Konfession verächtlich machende Handlung. Sie stellten Spi-
one auf, welche alle Übertretungen der landesfürstlichen Verordnungen ausfindig machen
und melden mußten.246
Die Autorin schildert in weiterer Folge, wie die evangelisch gesinnte Hauptprotago-
nistin des Romans, die Gewerkentochter Maria, nun eine verheiratete Christalnigg,
vom »katholischen Pöbel« attackiert wird, weil sie und ihr Mann, der Stadtrichter
ist, einer vermeintlichen Hexe ein Begräbnis nach evangelischem Ritus ermöglichen.
Die abergläubische und durch ihre Priester verhetzte Volksmenge geriet in einen fanati-
schen Taumel, bezichtigte die Christalniggs des Verbrechens der Gemeinschaft mit der
toten Hexe, grub die Leiche wieder aus, verbrannte sie auf dem Schindanger und warf die
Aschenreste in die Glan.
In der nächsten Nacht wurden im Christalnigghaus alle gegen die Obermühlbacher
Straße gelegenen Fenster eingeworfen, und als Maria am nächsten Tag durch die Wei-
tensfelder Vorstadt ging, rief man ihr ganz ungescheut Schimpfnamen nach wie ›Hexe‹,
›Ketzerweib‹ und ›Höllengräfin‹.247
Der Roman wirbt angesichts solcher Zustände um Verständnis dafür, auszuwandern
und die eigene Heimat zu verlassen. Für diese Entscheidung legt Zenneck ihrem
Hauptprotagonisten, dem Familienvater Andreas Zenegg, eine intellektuell gereifte
Rechtfertigung in den Mund :
Aber das Wort Heimat habe für ihn und für viele Evangelische Innerösterreichs seit dem Ab-
schluß des Augsburger Religionsfriedens anno 1555 einen anderen Klang bekommen. Denn
nun, da die Untertanen in religiösen Dingen der Willkür ihrer Landesfürsten ausgeliefert
seien, hätten sie aufgehört, freie Menschen zu sein. Wo aber ein Mensch in seinem Gewissen
246 Ebd., 210 f.
247 Ebd., 193 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353