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287Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
mit Napoleon Bonaparte während dessen Aufenthaltes in der Landeshauptstadt.276
Sittenberger verleiht der jungen Bürgerstochter einen überaus kecken, unbeschwer-
ten Schreibstil, mit dem er (bzw. sie) die Klagenfurter »gute Gesellschaft« aufs Korn
nimmt. Das allgegenwärtige Gerede von Vaterlandsliebe und Patriotismus entlarvt
sie als heuchlerisches Geschwätz. So heißt es gleich im ersten Eintrag vom 17. Feb-
ruar 1797, einige Wochen vor dem französischen Einmarsch in Klagenfurt :
Der Krieg steckt allen im Kopfe. Die Herren führten lange Gespräche darüber, und selbst
wir jungen Mädchen mußten zuhören. Das gehört schon zum Patriotismus, meinte Tante
Netti. Ich denke freilich, dazu hätte man etwas Besseres hören müssen, als daß die unseren
überall davonlaufen.277
Während man also in der herkömmlichen Heimat- und Geschichtsliteratur um die
Wende zum 20. Jahrhundert »die Zeit der Freiheitskriege« als ein »Ehrenblatt in
der Geschichte unseres Landes«278 darstellte, entwirft Sittenberger durch die Feder
eines unbedarften Mädchens auch eine Art »Counter Story«, mit der er die her-
kömmliche Einschätzung der Meinungselite jener Zeit konterkariert.
Dies kommt auch im von Sittenberger entworfenen Bild der Franzosen, das Scho-
lastica hat, zum Ausdruck. Ihre militärische Bedrohung wird im Tagebuch weit-
gehend beschwichtigt und die Eroberer werden mit einer gewissen Bewunderung
beschrieben – vor allem die Person Napoleons, dessen Genie den schwerfälligen,
neidischen und große Reden schwingenden heimischen Militärs gegenübergestellt
wird :
Der alte Major Budik, der […] wie immer das große Wort führte, meinte zwar, […] Buo-
naparte habe nichts weiter als Glück, aber er werde bald in der Mäusefalle sitzen. Unter
50 Jahren könne überhaupt kein Mensch einen tüchtigen General abgeben, weil ihm die
nötige Erfahrung mangle, ausgenommen, er sei von prinzlichem Geblüt. Aber der 28jäh-
rige Franzose geht unseren ältesten Generälen so toll unters Gesicht, daß sie mit ihren
morschen Beinen trotz Gicht und Zipperlein das Springen lernen. Mir gefällt das, und da
mag die Tante Netti hundertmal sagen, es sei nicht patriotisch von mir. Man muß auch den
Feind achten, hab’ ich schon in der Schule bei den Ursulinerinnen gelernt.279
276 Joachim Eichert hat sich bemüht, die Novelle nach historischen Entsprechungen, vor allem hinsicht-
lich der handelnden Personen, zu untersuchen. Sittenberger vermischt in seiner Novelle Personen
aus der Erzählzeit (Ende des 19. Jahrhunderts) mit historisch belegten Persönlichkeiten aus der er-
zählten Zeit. Die Hauptfigur, Scholastica Bergamin, ist jedoch eine Erfindung des Dichters. Vgl. dazu
Näheres bei Eichert, J.: Scholastica Bergamin (2009).
277 Sittenberger, H.: Scholastica Bergamin (1940), 9.
278 Unterluggauer, J.: Kärnten in den Freiheitskriegen (1913), 4.
279 Sittenberger, H.: Scholastica Bergamin (1940), 9 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353