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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis296
halt verheiratet mit irgendeinem, der die Mitgift braucht. Die Knaller Lene, die Marie vom
Onkel Franz –‹303.
Die Hauptfigur, Leopold Rabensteiner, kann den Franzosen ebenso wenig abgewin-
nen. Im Gespräch mit dem noblen und großmütigen Vizedom Kornauth stellt dieser
dem Stereotyp des lebensfrohen Franzosen das steife und kühle Auftreten Leopolds
gegenüber : »›Nimm’s mir nicht übel, Leopold, wenn ich dir was sage. Du könntest
vielleicht ein wenig von ihnen lernen. So ein Schuß Leichtsinn und Lebensfreude, so
ein bißchen mehr Verbindlichkeit täte dir gut.‹«304
Dieser Kontrast gewinnt an Bedeutung, wenn man die Rolle, die Leopold innehat,
als Ideal für jenen Persönlichkeitstyp ansieht, den man in der Sozialforschung mit
dem Begriff »Autoritarismus« bezeichnet und der einigen Wesenszügen des Kärnt-
ner Habitus nahekommt. Leopolds Charakter erscheint im Roman nur zu Beginn als
vermeintlich oberflächlich und roh ; mit Fortdauer der Erzählung aber ergeben sich
tiefere Einblicke in diese Figur, die gezeichnet ist vom frühen Tod des Vaters und
von der unehrenhaften Liebesaffäre der Mutter mit einem slawischen Knecht, den
er als junger Knabe mit einem Bauchschuss vom Hof vertrieben hatte. Gefühlskälte
und Sprachlosigkeit über Geschehenes belasten auch die Beziehung zu seiner Ehe-
frau Gertraud :
Einmal hatte er ihr erzählt, daß er als vierjähriges Kind habe mitansehen müssen, wie ein
wütender Stier seinen Vater getötet hatte. Aber er träumte nie davon, wenigstens sagte er,
dass er niemals träume. Es war vieles in ihm, das sie nicht kannte. Er sprach wenig von sich,
und seine herbe, strenge Art brachte es dazu, daß auch Gertraud es kindisch empfunden
hätte, über das zu reden, was ihr Herz bewegte.305
Die Beziehung von Leopold zu Gertraud wird als prototypisches Muster der herr-
schenden Geschlechterverhältnisse skizziert, patriarchale Unterordnungsstrukturen
prägen die Kärntner Gesellschaft, wie sie Viesèr hier beschreibt.
Das Leben war seltsam schwer in diesem doch so fruchtbaren, heiteren Lande. Das heißt,
es lag schwer unter der schweren Faust der Männer, und merkwürdigerweise schienen die
Frauen am eifersüchtigsten darüber zu wachen, daß keine von ihnen aus der Reihe der von
Sitte und Gewalt Gefesselten ausbrach.306
303 Ebd.
304 Ebd., 82.
305 Ebd., 79.
306 Ebd., 35 f.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353