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299Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Seinem Charakter entsprechend hat Leopold auch nichts für Religion und Kirche
übrig. Als er gemeinsam mit dem Vizedom Kornauth das Inventar der Kirche im Ort
begutachtet und ihn Kornauth auf die Restaurationsbedürftigkeit des Kircheninven-
tars aufmerksam macht, zeigt Leopold sich teilnahmslos.
›[E]r war der Meinung gewesen, daß die Kirche von St. Martin ihn nichts anginge. […]
Stumm blickt er zum Kruzifix auf. Er hat es bisher kaum beachtet, ein altes Inventar wie
alle die Leuchter, Bilder und Fahnen, nur noch etwas verstaubter, altväterischer und
fremder.‹312
Glaube und Kirche werden hier von Leopold also als verstaubt, altväterisch und
fremd identifiziert, als etwas, das verloren ging. Demgemäß ist dieser letzte histori-
sche Roman Dolores Viesèrs auch die Geschichte vom religiösen Niedergang einer
Region, die paradigmatisch für diesen Prozess in ganz Europa steht. Viesèr beschreibt
diesen Religionsverlust aber nicht so sehr aus der kirchlichen Perspektive, im Sinne
des Machtverlustes einer religiösen Institution,313 sondern als Niedergang der Hu-
manität und christlichen Werte. Der greise Vizedom Kornauth repräsentiert dabei
die nun veralteten Werte, sein Großmut, seine Weitherzigkeit und Güte stehen wohl
dafür, worin Viesèr den Ausdruck dieser Werte sah. Es ist bezeichnend, dass Korn-
auth nach der geschilderten Szene in der Kirche plötzlich an einem Herzanfall stirbt.
Die Literaturwissenschaftlerin Helga Abret bezeichnet Nachtquartier sogar als
einen »Roman vom Niedergang des christlichen Glaubens«314. Dieser Glaubens-
verlust wird von Viesèr allerdings nicht den Franzosen angelastet, wenngleich die
Vorwürfe der einheimischen Bevölkerung dies nahelegen könnten. Den »Sittenver-
fall«, wie er von vielen Protagonisten und Protagonistinnen den Franzosen vorge-
worfen wird, beschreibt Viesèr vor allem an der einheimischen Bevölkerung, an ihrer
Habgier, Heuchelei und Selbstgerechtigkeit. Sie sind Ausdruck der Gottesferne der
beschriebenen Gesellschaft. Einzig der einfältige Gregor, ein belächelter Außensei-
ter, der sich als Musiker und Unterhalter durchs Leben schlägt, scheint eine gewisse
Unschuld und damit einen besonderen Gottesbezug bewahrt zu haben, wie das die
312 Ebd., 297.
313 Lediglich ein alter Hieronymitanerpater erscheint als Vertreter des Klerus, dem es »viele für übel
halten«, dass er auch nach der Säkularisierung des Klosters »immer noch so wie seinerzeit im Hie-
ronymitanerkloster« lebt und auch selbst das Gefühl hat, nicht akzeptiert zu werden. Im Gespräch
mit Gertraud erzählt er von seinem theologischen und künstlerischen Lebenslauf und schlussfolgert
schließlich : »›Mir will es nun fast scheinen, als ob ich hier mehr Einsiedler und Büßer wäre als im
Kloster.‹ […] ›Das kann ich mir wohl vorstellen. Es muß hart sein, in diesem öden Pfarrhaus, unter
diesen verschlafenen Leuten zu leben, wenn man in der Welt war und so viele große Pläne gehabt
hat.‹« Ebd., 95 und 97.
314 Abret, H.: Nachtquartier (2010), 15.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353