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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis338
gurationen entspringt. Individuen, die zueinander in Beziehung treten, formen
Machtbalancen aus, die sich in Kärnten in einer besonders akzentuierten Unter-
tanenmentalität zeigten. Das Autoritätsideal der Untertanen ist dabei jenes eines
starken, aber gnädigen Landesvaters bzw. einer Landesmutter, dessen bzw. deren
Beziehung zum Untertan im Wesentlichen dem Patron-Klientel-Verhältnis vormo-
derner Gesellschaftsformen entspricht. Wie am Beispiel des Bildes der Hemma von
Gurk im gleichnamigen Roman zu sehen war, trägt diese christliche Landesheilige
eben jene Züge einer starken und strengen, aber auch fürsorglichen und gnädigen
Landesmutter, die die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen versteht und sich
der Landbevölkerung näher fühlt als dem hohen Adel oder der hohen Geistlich-
keit. Diesem Ideal steht die Figur Leopolds in Viesèrs Nachtquartier gegenüber. Als
autoritärer Grobian steht er für die real existierenden Herrschaftsverhältnisse am
Land, für patriarchalen Chauvinismus und die Aufrechterhaltung einer Fassade sozi-
aler Harmonie. Seine Frau Gertraud, die diese Fassade durch ihr Verhältnis mit dem
französischen Lieutenant zum Bröckeln bringt und dafür mit ihrem Leben bezahlen
muss, viel mehr noch aber ihre Magd, die als stumme Untertanin ihre persönlichen
Bedürfnisse dem Ideal der treuen Dienerin hintanstellt, stehen für die tragischen
Folgeerscheinungen dieser Autoritätskonzeption. Letztere ist ebenso wie die verge-
waltigte Magd, die in Perkonigs Heimsuchung aus Scham den Selbstmord sucht, und
Christine Lavants Magd Wrga, deren beeinträchtigtes Kind Zitha als vermeintliches
Wechselbälgchen zum sozialen Außenseitertum verdammt ist, Repräsentantin jenes
sozialen (Sub-)Milieus, das bis in die jüngere Vergangenheit selbstverständlicher Teil
der Kärntner Gesellschaft war. Wie gezeigt werden konnte, war die Entfremdung
zur katholischen Kirche in diesem Milieu besonders stark ausgeprägt.
Nicht nur im Dienstbotenmilieu diente die Strategie der Beschämung als eine Art
psychosozialer Regulator zur Aufrechterhaltung bestehender Autoritätsstrukturen.
Sie kam in den vorgestellten Textpassagen aus Peter Handkes Wunschloses Unglück
treffend zum Ausdruck, in denen er beschreibt, wie sich seine Mutter bei jedem
Anflug von öffentlich zur Schau gestellter Individualität den maßregelnden Blicken
der anderen beugen muss und wie sie selbst einen Behördengang als Gnadengesuch
erleben muss.
Die dargestellten Autoritätsbeziehungen beruhen auf der Logik feudaler Herr-
schaftsverhältnisse, die in Kärnten aufgrund der späten territorialen Integration des
Landes und der einflussreichen lokalen Eliten vor allem im ländlichen Raum lange
erhalten geblieben sind. Das Patronage- und Klientelwesen prägt die soziale und po-
litische Kultur Kärntens bis in die Gegenwart ebenso wie der weitverbreitete Nepo-
tismus. Historisch zeigte sich diese Facette an den permanenten Schwierigkeiten der
staatlichen und kirchlichen Behörden – also von »denen da oben« –, Maßnahmen
und Weisungen durch einen entsprechend loyalen lokalen Beamtenstab zu exeku-
tieren. Häufig waren die Lokalbehörden auf der Seite der Bevölkerung und sympa-
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353