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345Rückblick
verschiedenen weltlichen und kirchlichen Grundherren zu äußerst heterogenen Be-
sitzverhältnissen auf dem Gebiet des heutigen Kärnten führte. Obwohl das Her-
zogtum Kärnten das älteste politische Gebilde auf dem heutigen österreichischen
Staatsgebiet ist, zählt der territoriale Integrationsprozess Kärntens zu den längsten
und schwierigsten. Dies bedeutete für die Untertanen Unsicherheit, zunächst hin-
sichtlich der Rechtslage : Trotz der allmählichen Etablierung eines gewissen Ins-
tanzenzugs war die grundherrliche Patrimonialgerichtsbarkeit die erstinstanzliche
Ansprechpartnerin der Untertanen. Gerade im kirchlichen Bereich verkomplizierte
sich diese Sachlage dadurch, dass diözesane Seelsorgegebiete nicht durchwegs den
grundherrschaftlichen Besitzverhältnissen entsprachen. So war vor allem in entle-
generen Gebieten eine »pastorale Grundversorgung« der Menschen nicht gegeben.
Als ein Ausdruck dieses pastoralen Vakuums und Reaktion auf diese seelsorglich-
existenzielle Unsicherheit können die zahlreichen Sagen und Legenden gesehen
werden, die die Präsenz von Aberglauben und paganer Volksfrömmigkeit im kultu-
rellen Gedächtnis des Landes illustrieren.
Diese Voraussetzungen, gepaart mit der fehlenden Anwesenheit des Zentralherrn
in Kärnten – lange hatte kaum ein Herzog Kärntner Boden betreten – und der gerin-
gen strategischen Bedeutung, die die Habsburger dem Herzogtum zumaßen, führten
zu einer bemerkenswerten Akkumulation lokaler Macht durch den heimischen Adel.
Sie war am Beginn des Konfessionellen Zeitalters auch ausschlaggebend für die ra-
sche und nahezu flächendeckende Verbreitung reformatorischer Strömungen, deren
Erfolg in Kärnten außerordentlich war. In der Reformation erblickten die Stände eine
Möglichkeit, ihren grundherrlichen Absolutismus nach »unten«, also gegenüber den
Untertanen, auch konfessionell durchzusetzen und zugleich nach »oben«, gegenüber
dem Zentralherrn, die Machtbalance zu ihren Gunsten zu bewegen. Die Ausprägung
eines Kärntner Heimatbewusstseins diente dabei der Unterstreichung der regionalen
Machtansprüche, die man vor allem in der Stadt Klagenfurt zu repräsentieren trachtete.
So bedeuteten die hiesigen Herrschafts- und Besitzverhältnisse für die in Kärn-
ten verhältnismäßig spät einsetzenden Rekatholisierungsbemühungen erhebliche
Schwierigkeiten, weshalb sie sich schließlich als regelrechter Feldzug gegen die eige-
nen Untertanen gestalteten. Nachdem 1628 ein Großteil des protestantischen Adels
das Land verlassen musste, konnte sich vor allem in Oberkärnten ein kryptopro-
testantisches Milieu etablieren, dessen soziale Trägerschicht nun der Bauernstand
wurde. Als Antwort darauf versuchte man mit Beginn des 18. Jahrhunderts staat-
licher- und kirchlicherseits vermehrt, die Gesinnungskontrolle durch gesteigerten
Sozialdisziplinierungsdruck herbeizuführen. Angesichts der relativen Erfolgslosig-
keit dessen spitzte sich in den 1730er Jahren die Lage zu und Massendeportationen
waren die Folge. Diese Maßnahmen, von der erzwungenen »Transmigration« bis
hin zur Praxis der Kindesabnahme zum Zweck der katholischen Sozialisation, haben
tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis des Landes hinterlassen.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Titel
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Untertitel
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Autor
- Johannes Thonhauser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 402
- Schlagwörter
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353